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Berlin: Schwer geschafft

Für Swen Schulz hat sich die Ochsentour im Wahlkampf gelohnt. Er hat sein Mandat. Tagebuch eines SPD-Kandidaten

Swen Schulz wollte in den Bundestag. Jetzt hat er es tatsächlich geschafft. Jahrelang hatte sich der 34-jährige Verlagsmitarbeiter für Parteifreunde und deren Wahlkampf engagiert, nun kandidierte er zum ersten Mal selbst für die SPD im Wahlkreis Spandau/Charlottenburg-Nord. Sein elfter Platz auf der Landesliste schien aussichtslos, also musste er seinen Wahlkreis unbedingt direkt gewinnen. Sein Gegner: der CDU-Aufsteiger Kai Wegner (29), Fraktionsvize im Abgeordnetenhaus. Was geht einem, der seinen ersten Wahlkampf bestreitet, durch den Kopf? Wie fühlt es sich an, plötzlich im Mittelpunkt zu stehen? Swen Schulz hat es für den Tagesspiegel aufgeschrieben. Das Tagebuch eines Kandidaten.

10. Mai

Wenn jetzt Wahl wäre, würde ich verlieren – so schätzungsweise sechs Prozent hinter Kai Wegner. Ich überlege mir, was ich mache, wenn es nicht klappt. Alle Gedanken sind auf den Wahltermin fixiert – danach herrscht die große Leere. Vor einem Jahr sah das anders aus. Da war ich absolut sicher, dass ich den Wahlkreis holen kann. Vieles läuft nicht gut, im Bund und auch im rot-roten Senat. Viele Leute sind sauer wegen der SPD/PDS-Koalition. Dann der SPD-Spendenskandal und die Scharping-Affären. Ich fühle mich fast persönlich beleidigt, wenn Scharping wieder was loslässt.

Vor Ort läuft der Wahlkampf besser. Am Himmelfahrtstag war ich auf fünf Terminen: 10 Uhr AWO im Seniorenclub, 11 Uhr Gartenbauverein Staaken, 12 Uhr Kleingartenverein im Radeland, 14 Uhr Eröffnung Festwoche Gartenstadt Staaken, 19 Uhr Königsessen der Schützengilde. Das hat Spaß gemacht, aber danach war ich erstmal platt.

Wir haben diskutiert, was für ein Profil der Kandidat Swen Schulz hat – das war so halbpsychologisch: jung, dynamisch, neuer Schwung, ein Kommunikator, weniger ein Agitator, kein Lummer oder Strauß. Die Lummer-Nummer fährt ja schon mein Gegenkandidat Kai Wegner.

27. Mai

Der Urlaub ist für dieses Jahr gestrichen. Stattdessen gibt es eine Bustour durch Spandau. Mit einem Doppeldecker, von dem überlebensgroß Swen Schulz herablächelt. Das wird der erste Wahlkampfknüller und eine Überraschung für Kai Wegner – aber man weiß ja nicht, was der noch alles aus dem Hut zaubert. Wenn ich rausgehe, ist jetzt immer ein Team dabei, das meine Termine organisiert und das Verteilen übernimmt. Das streichelt auch ein bisschen mein Ego. Man hat eben schon das Gefühl, wichtig zu sein.

Leider engagieren sich nicht alle Parteimitglieder so, wie ich es mir vorstelle. Ich würde da gerne wie ein Vorgesetzter auftreten, aber das geht natürlich nicht. Ich habe jahrelang für andere geackert, da kann ich wohl erwarten, dass sie das Gleiche jetzt für meinen Wahlkampf tun. Was mich derzeit total nervt, ist diese Initiative von Peter Strieder zur Reform der SPD. Das Papier ist grottenschlecht.

9. Juni

Der Wahlkampf hat interessante Färbungen erhalten: Mein Gegenkandidat macht einen Frühschoppen mit Lummer und Gafron, während ich zeitgleich in einem türkischen Café das WM-Spiel der Türken gegen Costa Rica sehe. Sehr angenehme Stimmung, gastfreundliche Leute, die türkische Presse war auch da – da gehe ich wieder hin, auch ohne Wahlkampf.

Die letzte Sitzung der Bezirksverordnetenversammlung war der letzte Heuler. Wie die Kesselflicker haben wir uns gestritten, inklusive Auszug der SPD-Fraktion aus dem Sitzungssaal, persönlichen Diffamierungen, Beleidigungen und allem Drum und Dran. Das Presseecho in Spandau war dementsprechend negativ.

16. Juni

Landesparteitag – recht ordentlich, was die Außenwirkung anbetrifft. Intern gibt es natürlich Diskussionen aufgrund der massiven Proteste der Gruppen, die unter den Kürzungen leiden. Vor drei Tagen war die erste richtige Kandidatenrunde, organisiert vom „Nord-Berliner“ und dem Spandauer Stadtjournal. Es war ein gutes Training: mein CDU-Gegenkandidat mit Argumentationskarten von seinem Parteivorstand, ich musste ohne auskommen. Die Aufteilung der 80 Besucher: 50 CDU, 10 SPD, 10 entfielen auf die kleineren Parteien und dann noch 10 so genannte „echte Bürger“. Wenn es drauf ankommt, müssen mehr Sozis anwesend sein und klatschen. Ich werde die Mandatsträger zur Teilnahme an Veranstaltungen, Infoständen usw. verdonnern.

4. Juli

Heute wird der Wahlkampfbus mit meinem Konterfei offiziell in Dienst gestellt.

Wir haben ihn schon ein paar Tage leer durch Spandau fahren lassen. Schätzungsweise hat auch Kai Wegner ihn schon gesehen und sich schwarz geärgert. So richtig los geht der Wahlkampf aber erst im August. Dann kommen die Promis. Die SPD-Kampa hat Finanzminister Eichel angeboten, aber nur, wenn mindestens 1000 Leute zur Veranstaltung kommen. So viel kriege ich niemals zusammen. Innenminister Schily hätte ich gerne für eine Sportveranstaltung gehabt, aber der macht in Bayern Wahlkampf. Als Ersatzmann soll Scharping kommen. Den halte ich nicht gerade für publikumswirksam. Den Kanzler zu kriegen, ist völlig unmöglich.

19. Juli

Die Frage Scharping hat sich mit seinem Rücktritt erledigt. Leider fällt deswegen auch die Sportveranstaltung aus. Bisher läuft der Wahlkampf sauber. Es gab noch keine Attacken unter der Gürtellinie, aber das kann noch kommen. Ich habe schon überlegt, ob man mir was anhängen kann, bin aber nicht fündig geworden. Ich habe keine Putzfrau, keine Immobilienfonds bei der Bankgesellschaft und ich wurde mehrfach von der Gauck-Behörde überprüft. Sollte die andere Seite eine Schlammschlacht beginnen, bin ich gewappnet. Das eine oder andere weiß ich über Wegner. Ansonsten ist die ungewisse Zukunft nach dem 22. September schon belastend – rein familiär gesehen. Im August ziehe ich mit meiner Freundin und ihren beiden Töchtern zusammen. Da wäre es hilfreich, Abgeordneter zu werden.

8. August

Zum ersten Mal habe ich mir kein Kicker-Sonderheft zum Start der Bundesliga gekauft. Mein Leben besteht fast nur noch aus Wahlkampf. Seit dem 1. August bin ich von meinem Arbeitgeber freigestellt. Die Plakate mit meinem Foto hängen jetzt überall – was eher unangenehm ist. Ich habe das Gefühl, dass mich auf der Straße jeder erkennt und beobachtet. Noch sechs Wochen bis zum Tag X – der Endspurt hat begonnen. Alle werden langsam hektisch. Natürlich auch wegen der schlechten Großwetterlage im Bund.

17. August

Ein anstrengender Tag mit krassen Höhen und Tiefen. Drei Infostände, ein Auftritt mit Wolfgang Thierse, eine Tour zur Freiwilligen Feuerwehr Gatow und dann noch drei Kleingärten. Wie machen das nur die Spitzenpolitiker auf Dauer ohne Tabletten? Zwei Infostände waren toll, dann am Spandauer Fernbahnhof: Tristesse. Die Feuerwehr war okay. Der Tiefpunkt war eine Diskussion mit Kai Wegner in einer Kleingartenkolonie, die das Bezirksamt wegen verseuchter Böden teilweise schließen will. Ich versuche, vernünftig und differenziert zu argumentieren. Wegner sagt einfach: Die Gärten müssen bleiben. Punkt – aus. Dafür kassiert er tosenden Beifall. Da wundert man sich schon.

27. August

Heute war die Veranstaltung mit DGB-Chef Sommer – und ich war so gut wie nicht vorbereitet. Das muss anders werden! Jetzt beginnt der Mobilisierungswahlkampf. Keine politischen Diskussionen mehr, nur noch den Leuten klarmachen: Wir brauchen eure Stimme! Und lächeln dabei. Abends kriege ich das Lächeln kaum noch aus dem Gesicht.

30. August

Mein Nervenkostüm ist sehr angespannt. Ich setze mich unter Druck, ja keinen Fehler mehr zu machen und ärgere mich über jede Kleinigkeit, die trotzdem danebengeht – zum Beispiel eine schlecht gedruckte Werbepostkarte. Ich brauche jetzt Leute um mich herum, die sagen: Hey, es läuft alles super. Schlechte Laune kriege ich auch, wenn ich durch die Stadt fahre und sehe, dass doppelt so viele CDU-Plakate wie von uns hängen. Die Helfer haben auf meinen Wunsch hin nochmal 1000 Plakate nachgehängt.

9. September

Ich bin ständig unter Strom. Termine von morgens um 8 bis abends um 22 Uhr, danach E-Mails beantworten. Die heiligen zwei Stunden Fitnesssport sind jetzt auch gestrichen. Aber ich habe das Gefühl, es läuft gut. Zur Diskussion in der Bertolt-Brecht-Oberschule kam ich etwas zu spät. Beim Reingehen brandete dann spontan Applaus auf – das war richtig beschwingend. Die Stimmung bei den Leuten ist viel besser als im Frühjahr. Die Landespolitik spielt kaum noch eine Rolle. Wenn viele Grünen- und PDS-Wähler mir ihre Erststimme geben, müsste es reichen. Mein gefühlter Vorsprung vor Wegner liegt bei 4 bis 5 Prozent.

16. September

Mein gefühlter Vorsprung ist auf 8 Prozent gestiegen. Im Internet-Portal www.election.de gilt mein Wahlkreis schon als sicher für die SPD. Es häufen sich die Bewerbungen von potenziellen Bundestags-Mitarbeitern. Ich versuche, trotzdem ruhig zu bleiben – Zweckpessimismus. Ich kann jetzt nichts mehr ändern an der Strategie. Noch 6 Tage...

22. September

Als die ersten Hochrechnungen kamen dachte ich: Mist. Ich war total nervös, kaum ansprechbar. Dann wurde langsam klar, dass es in Spandau besser aussieht als bundesweit. Ich liege rund fünf Prozent vor meinem Gegenkandidaten Kai Wegner. Bin ich glücklich? Ich glaube schon. Ganz langsam stellt sich dieses Gefühl ein. Protokoll: Thomas Loy

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