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Familienfoto aus besseren Zeiten. Prinz William und Harry litten sehr unter dem Tod ihrer Mutter. Heute klären sie über psychische Krankheiten auf.

© AFP

Seelsorge in Berlin: Karitative Initiativen suchen eine Galionsfigur

Dass sich die britische Königsfamilie für psychisch Kranke engagiert, begrüßen viele. Nicht zuletzt weil das Stereotype abbauen kann.

Auch Majestäten sind von psychischen Erkrankungen betroffen. Aktuelles Beispiel aus den Reihen der Royals ist Prinz Harry, der sich im April öffentlich zu Depressionen nach dem Tod seiner Mutter Diana bekannte. Auch wenn es viele, die das hörten, wohl überraschte: Es gab hauptsächlich positive Reaktionen. Dass das etwas Besonderes und vielleicht sogar eine Neuheit ist, zeigt ein Blick in die Geschichte europäischer Königshäuser: Vor rund 150 Jahren wurde König Ludwig II von Bayern eine psychische Erkrankung nachgesagt: „Er war hochbegabt. Aber man hat ihn für verrückt erklärt“, sagt der Psychoanalytiker Wolfgang Schmidbauer. Als Folge der damaligen Diagnose wurde der „Märchenkönig“ entmündigt und um den Thron gebracht.

Die beiden Beispiele zeigen, dass sich die öffentliche Wahrnehmung von psychischen Erkrankungen – wenn auch langsam – zum Positiven verändert. Das Bekenntnis des Prinzen gilt heute als mutig. Mit Bruder William und dessen Ehefrau Kate kämpft er sogar für eine Entstigmatisierung psychisch Kranker. Gemeinsam haben sie die Kampagne „Heads Together“ gegründet, um gegen Vorurteile anzugehen, die „Menschen davon abhalten, sich Hilfe zu holen“, und betroffene Familien zu stärken.

Engagement für psychische Krankheiten ist noch immer selten

Karitative Initiativen begrüßen das Engagement der britischen Königsfamilie. Wolfgang Gaebel, Psychiater und Vorsitzender des Aktionsbündnisses Seelische Gesundheit, findet es wichtig, dass sich „Leute mit eigener Vorgeschichte“ für das Thema einsetzen. Wenn Betroffene sähen, dass andere psychische Erkrankungen bewältigen, mache das Mut. Es zeige, dass der Alltag trotzdem zu schaffen sei und trage dazu bei, Stereotype abzubauen.

Martina Kulms von der Telefonseelsorge Berlin erzählt von einer Mutter, mit der sie gerade am Telefon gesprochen hat: „Ihr 23-jähriger Sohn hat sich in seiner Psychose vor die U-Bahn geworfen. Er hat sich nicht behandeln lassen. Die Mutter macht sich jetzt Vorwürfe, dass sie ihn nicht in die Klinik gebracht hat.“ Ihr Kollege Christian Lisker weist darauf hin, wie wichtig es ist, sich frühzeitig in Behandlung zu begeben. „Das kann Leben retten.“ Dafür müssten Erkrankte und Familien allerdings informiert sein.

Dass „das Engagement für psychisch Kranke auch in Deutschland mehr wird“, wünscht sich auch Marianne Schumacher vom Berliner Landesverband Angehörige psychisch Kranker (APK). Projekte, die sich für deren Belange einsetzen, würden nach wie vor zu wenig wahrgenommen: „Uns fehlt eine Galionsfigur.“ Potenzielle Sponsoren setzten sich lieber für andere Projekte ein. „Das Engagement für psychisch Kranke hängt sich keiner gerne um den Hals“, sagt die 74-Jährige.

Dabei sind die Betroffenen zahlreich. „Man muss wissen, dass es in Deutschland mehr Tote durch Suizid gibt als durch Verkehr, Gewalt und Drogen zusammen“, sagt Lisker von der Telefonseelsorge Berlin, die 1956 gegründet wurde. Sie war die Erste ihrer Art in Deutschland. Das Thema Suizid – oft Folge psychischer Erkrankung – sei nach wie vor tabuisiert. „Aber es ist wichtig, darüber offen zu reden. Denn jeder Suizid hinterlässt im Durchschnitt sechs Betroffene, die traumatisiert sind.“

"Depression ist nicht mehr ganz so anrüchig"

Häufig würden die Konsequenzen psychischer Krankheiten für Angehörige unterschätzt, sagt Schumacher vom APK. „Verwandte können sich dem Thema nicht entziehen. Oftmals müssen sie ihr eigenes Leben zurückstellen.“ Und genauso wie Erkrankte leiden auch sie unter der Stigmatisierung. Kulms von der Telefonseelsorge sagt, es sei auch für Angehörige eine riesige Herausforderung, über das Thema zu sprechen. „Es passiert oft, dass Angehörige erzählen, ‚mein Mann hatte einen Herzinfarkt‘, um eine psychische Krankheit zu verbergen. Oder sie behaupten, der Suizid war ein Unfall“, sagt sie.

Auch wenn viele psychische Erkrankungen tabuisiert werden, gilt das nicht für alle gleichermaßen. „Depression ist nicht mehr ganz so anrüchig“, bemerkt Kulms. „Andere psychische Krankheiten sind noch sehr mit Makel besetzt.“ Schizophrenie sei die am meisten stigmatisierte Krankheit. Die falschen Bilder, die darüber kursieren, würden medial weiter verfestigt: „In Filmen werden die Betroffenen als unberechenbar, als tickende Bombe dargestellt.“ Im Alltag würden die Bilder dann reproduziert: Etwa ginge eine Mutter, die ihrer Nachbarin erzählt, dass ihr Sohn psychotisch ist, davon aus, dass diese sich vor ihm fürchtet. Dabei sei Schizophrenie in vielen Fällen heilbar: „Nur ein Drittel der Psychosen chronifiziert sich“, sagt Lisker. Und auch dann ließen sie sich medikamentös behandeln.

Dass die Depression heute weniger tabuisiert ist als andere Krankheiten, könne letztlich auch daran liegen, dass in den letzten Jahrzehnten besonders viele Menschen davon betroffen waren. In seinem neuen Buch „Raubbau an der Seele – Psychogramm einer überforderten Gesellschaft“ untersucht Analytiker Wolfgang Schmidbauer die kulturellen Voraussetzungen für diesen Anstieg: Er beobachtet eine Dynamik in der heutigen Konsumgesellschaft, die zu immer mehr Leistungstüchtigkeit auffordere und zur Verleugnung von Schwäche und Grenzen führe. Viele Menschen hätten letztlich Angst, „nicht gut genug zu sein für die soziale Rolle“, die sie anstreben, sagt er.

Auch darüber lachen können

Der Autor und Poetryslammer Tobi Katze erklärt, dass Betroffene oft gut darin seien, psychische Erkrankungen zu verstecken. Er geht das Thema Depression literarisch-humorvoll an. 2015 erschien sein Buch „Morgen ist leider auch noch ein Tag. Irgendwie hatte ich von meiner Depression mehr erwartet“. Über das Thema Depression öffentlich reden und auch lachen zu können, findet er befreiend. Für Zuhörer sei es hilfreich, zu merken, dass sie mit ihrer Depression kein Einzelschicksal sind – sie nicht schuld seien. Von seinen Lesungen weiß er: „Die Leute freuen sich, sagen zu können: Mir geht es genauso.“

Trotz allem sei ein offener Umgang mit Depressionen und anderen psychischen Erkrankungen nicht immer ratsam: Auch wenn öffentliche „Bekenntnisse“, wie das von Prinz Harry, als mutig angesehen werden, sollten sie „nicht zum Muster werden“, sagt Gaebel vom Aktionsbündnis Seelische Gesundheit. Ob es tatsächlich klug ist, sich öffentlich über die eigene Erkrankung zu äußern, müsse individuell abgewägt werden – am besten mit einem Therapeuten.

Auch Kulms von der Telefonseelsorge meint: „Man muss hingucken, wo man es sagt. Am Arbeitsplatz kann das schwierig sein. Letztens sagte mir ein Chefarzt, dass er einen Arzt, von dem er höre, der Bruder sei schizophren, nicht einstellen würde.“

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