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Berlin: Selber Ort, andere Zeit

Stellen, an denen die Mauer stand – immer wieder zog es die Ingenieurin Brigitte Förster dort hin. 15 Jahre lang fotografierte sie die Orte und schuf eine eigenwillige Dokumentation: tausende Bilder, hunderte Faltblätter. Von rasanten Veränderungen und merkwürdigem Stillstand in Berlin

Sie kommt aus Kreuzberg. Ist „eine richtige Berlinerin“. Die Mauer hat sie fast ihr Leben lang begleitet. Sie will die Zeit, die sich dramatisch zu verändern beginnt und die Mauer zu Fall bringt, im Bild verfolgen. Also muss der Fotoapparat mit. Sie linst durch die erste Schneise, die in den Betonwall geschlagen ist, hält – in sicherer Entfernung – die Kamera auf ein spannendes Motiv: missmutig, verwirrt wirkende Grenzsoldaten und Ost-Berliner, die unsicher auf die Mauer zugehen.

Die Frau mit dem Fotoapparat achtet nicht auf die Stelle, von der sie fotografiert. Sie weiß in diesem Moment nicht, dass dieser Augenblick der Beginn einer kleinen Sucht werden sollte. Oder anders gesagt, einer großen Leidenschaft.

Brigitte Förster, heute 55 Jahre alt, beobachtet die Entwicklungen an der einstigen Sektorengrenze mit der Kamera. Schießt immer wieder Bilder vom selben Ort, vom selben Standort aus. 15 Jahre lang ist sie regelmäßig zu vertrauten Ecken gegangen, hat dieselben Perspektiven gesucht. „Eine Art Zeitraffereffekt, den ich sehr spannend finde“, sagt sie.

Tausende Fotos hat sie auf diese Art geschossen, hunderte zu Faltblättern gestaltet, die Geschichten über ein Stück Berlin erzählen – und Geschichte dokumentieren. Es hilft ihrer Dokumentation, dass sie schon zu Mauerzeiten bekannte und weniger beachtete Plätze an der Mauer fotografiert hat. So lässt sich vergleichen, wie der Fall der Mauer die Menschen, vor allem aber eine Gegend zu verändern begann.

Es mussten Motive sein, die „vom Ausgangsbild her interessant waren“, sagt sie. Da belegen der Potsdamer und der Pariser Platz die ersten Ränge. Hier fotografiert sie verschiedene Serien aus unterschiedlicher Perspektive. Stück für Stück fällt die Mauer, zu beiden Seiten des Brandenburger Tores öffnen sich Übergangsstellen, was fast schon vergessen ist.

Um in Ruhe die alten Orte und Blickwinkel aufzuspürenfinden, bevorzugt sie sonntägliche Morgenstunden. Irgendwann ist es an etlichen Stellen nicht mehr möglich, denselben Fleck zu finden. Weil dort eine Hauswand steht oder eine Baugrube klafft. Die Frau mit der Kamera orientiert sich an Bäumen, an Straßenmarkierungen, so lange es geht. Es fallen viele Bäume in diesen Jahren.

Und sie entdeckt Skurriles. Beim Vergleich früherer Fotos vom Potsdamer Platz stellt sie in den neunziger Jahren fest, dass an einer bestimmten Stelle nach zwei Jahren immer noch dasselbe Auto steht. Damals gibt es auf der West-Seite noch Souvenirläden. Einem der Besitzer, so findet sie heraus, gehört das Auto. Das alles ist Geschichte, längst vom Sony-Center geschluckt. In Brigitte Försters Bildern aber ist alles festgehalten. Sie dokumentiert den alten Preußischen Landtag hinter der bemalten Mauer, den späteren Aufbau zum Abgeordnetenhaus. Sie sieht sich an der Luckauer, Ecke Waldemarstraße in Kreuzberg nahe dem Engelbecken um, postiert sich akribisch genau. Auch diese Fotoserie zeugt vom allmählichen Zusammenwachsen der Stadt. Schon zu Mauerzeiten fotografiert sie die Häuserzeile an der Schönholzer Straße, die zur Bernauer Straße gerichtet ist. Die Mietskaserne, die mit ihrer blauen Brandwand weit in den Westen leuchtet. Ein Motiv, das Brigitte Förster auch nach der Wende so faszinierend findet, dass sie immer wieder vorbeischaut. „Ein Muster an Stillstand“, sagt sie und ist selbst verblüfft, dass sich die Fotos so sehr ähneln – bis auf die Mauer, natürlich, und auf die inzwischen verputzten Fassaden. Brigitte Förster sagt, ihre dokumentarische Arbeit sei aufreibend gewesen, manchmal „verbissen“.

Sie habe viel experimentieren müssen, um die richtigen Blickwinkel zu finden. Tausende Fotos hat sie verglichen, gesammelt. Das hat einen großen Teil ihrer Freizeit gekostet, das kostet viel Platz in Schubläden zu Hause. Denn Brigitte Förster ist nur Hobbyfotografin, eigentlich Ingenieurin und Software-Entwicklerin beim Aufzughersteller Otis in Reinickendorf. Sie findet es schade, die Zeugnisse des Berliner Wandels in Alben zu vergraben oder hin und wieder den Bekannte zu zeigen. „Ich habe von einem Bildband geträumt“, sagt sie. Ein Postkartenverlag hat zumindest eine kleine Serie ihrer Fotos vom Brandenburger Tor herausgebracht. Mehr ist nicht geplant.

Ihre Motive sind keine Postkartenmotive. Man brauche etwas, das der Tourist erkennt, hat man ihr gesagt. Da haben Kreuzberger oder gar Treptower Motive keine Chance.

Vielleicht ist der Vergleich auch eher was für Einheimische. Die Geschichte ihrer eigenen Gegend hätte sie dokumentieren können. Einst heruntergekommens Sanierungsgebiet, jetzt eine beliebte Wohnlage am Landwehrkanal. Aber es hat sie immer dorthin gezogen, wo die Mauer stand.

Sie will weiter unterwegs sein, „auch wenn nicht mehr so viel passiert.“ Sie will ihre Dutzend Orte abklappern, vor allem die Bernauer Straße im Blick behalten. Am Leipziger Platz zeigen sich – aus dem Blickwinkel von 1989 – immer noch große Lücken. Aber dort, wo einst die Vopos standen, wo der Spalt in der Mauer war, ist heute Vorsicht geboten. Hier ist kein Platz mehr für Mußemomente. Man begibt sich in Lebensgefahr. Die stille Ecke von damals ist, was zur Wendezeit kaum jemand ahnen konnte, eine der bedeutendsten Straßenkreuzungen geworden.

Christian van Lessen

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