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Ein ausgewachsener Fuchs zwischen Autos am Mehringdamm in Kreuzberg.

© dpa

Serie: Auf der Fährte (1): Stadtplanung für Berlins wilde Tiere

Alle wollen nach Berlin, jetzt auch noch die wilden Tiere. Die Menschen finden das schön, solange sie ihnen nicht ins Gehege kommen. Ein Biologe und ein Architekt wollen nun die Stadtplanung revolutionieren – und zwar artgerecht. Teil 1 unserer Sommerserie.

Irgendwann hatten die Berliner Rotkehlchen ein kapitales Problem. Als auf den Straßen der Hauptstadt der Verkehr nämlich so laut toste, dass sie ihren Balzgesang nicht mehr hörten. Da drohte ihnen ein Leben ohne Partner.

Bevor jedoch der Verkehr den Verkehr verhinderte, passierte das, was in Berlin immer geschieht: Es verlagerte sich einfach alles nach hinten. So sind auch diese Vögel echte Berliner geworden, sie singen einfach später in dieser Stadt, die für ihre späten Partys berühmt ist, für ihr spätes Frühstück bis 16 Uhr und späte Mütter bis zu 65 Jahren. Berliner Rotkehlchen, die Lässigen, singen einfach, wenn der Berufsverkehr durch ist.

Das Konzept: Wildtiere in der Stadt ansiedeln

Thomas Hauck lässt sich in der Gneisenaustraße in eine Hollywoodschaukel fallen und schwingt vorsichtig auf seinen Cappuccino zu. Der steht vor dem Café „Mr. Minsch“, wo auch die Menschen laut sprechen müssen, um gegen den Verkehr anzukommen.

Der Landschaftsarchitekt Hauck kennt solche Zusammenhänge erst seit Kurzem. Trotzdem sind sie so relevant, dass er seit ungefähr zwei Jahren an der Universität Kassel zusammen mit dem Biologen Wolfgang Weisser von der TU München ein Konzept namens „Animal Aided Design“ entwickelt. Das zielt darauf ab, Wildtiere in der Stadt anzusiedeln. Mehr noch: Thomas Hauck möchte die Bedürfnisse von Wildtieren von vornherein in die gesamte Stadtplanung integrieren.

Thomas Hauck ist Landschaftsarchitekt. Er möchte die Stadtplanung revolutionieren - und zwar tiergerecht.
Thomas Hauck ist Landschaftsarchitekt. Er möchte die Stadtplanung revolutionieren - und zwar tiergerecht.

© Thilo Rückeis

Sicher, Berlin wächst, schließlich will alle Welt nach Berlin – aber erklärt das die Landflucht der Tiere? Füchse streifen durch das Botschaftsviertel, viele Vögel, Insekten oder Bienen finden hier bessere Möglichkeiten als in einer Großraumlandwirtschaft mit wenig Artenvielfalt. Und so ringen in Grunewald die Menschen und die Wildschweine um die Hoheit über die Gärten, Wölfe werden in Brandenburg gesichtet, Spechte halten die neue, teure, geförderte Fassadendämmung für so hohl, dass sie ein Loch hineinpicken, als sei sie bloß gemeines Totholz. Ratten bewohnen ihr dunkles Gegenreich, Schmetterlinge fliegen bis zu den Balkonen im fünften Stock und Großstadtsperlinge besuchen die schicksten Cafés.

Thomas Hauck, 40 Jahre alt, ist in seinem Metier, der Landschaftsarchitektur lange völlig ohne Tiere ausgekommen. In die Zeichnungen hat man sie einfach aus ästhetischen Gründen hineingemalt. Die ganze Branche plant bis heute nur Pflanzen – und überlässt die Ansiedlung von wilden Tieren dem Zufall.

Darf man das? Natur inszenieren?

Aber wie soll man nun planen? Die Stadt tut sich ja schon schwer, die Bedürfnisse von Fahrradfahrern und Autofahrern, Eigentümern und Mietern, Eingesessenen und Zugezogenen unter einen Hut zu bringen. Gebaut werden soll mieter- und behindertengerecht. Jetzt also auch noch tiergerecht?

Haucks Fachbereich an der Uni Kassel hat den attraktiven Titel „Freiraumplanung“. Er betont, dass damit die Freiräume der Menschen gemeint sind, auch, wenn seine Forschung Tierbedürfnissen gilt. „Die Welt kommt einem ein bisschen intakter vor, wenn morgens die Vögel singen.“ Also agieren statt reagieren! Hauck kann sich zum Beispiel gut vorstellen, dass irgendwann Neubauten zusammen mit dem Amselgesang hinter dem Schlafzimmerfenster vermarktet werden. Warum nicht?

„Gott spielen“, sagt Hauck, sei für konservative Naturschützer, was sie machen. Darf man das einfach so machen? Natur inszenieren?

Hauck und Weisser haben sich ihr „Animal Aided Design“ als Wortmarke europaweit schützen lassen.

Meistens sei es ja so, sagt Hauck: Wenn alles fertig ist, hängt einer noch einen Nistkasten auf. Dabei garantiere ein Nistkasten für gar nichts. Nicht, ob auch all die anderen Bedingungen erfüllt sind, die ein Vogel für das Durchlaufen eines Lebenszyklus braucht. Im schlimmsten Fall taucht irgendwo, wenn alles fertig ist, ein schützenswertes Tier auf. „Als Lästigkeit – und oft eine teure Katastrophe.“ Dann muss alles getan werden, um diese Art genau dort zu erhalten.

Schweinchen Max in der großen Stadt. Er hat es nur bis Speremberg in Brandenburg geschafft. Doch auch in Berlin lassen sich Wildschweine immer öfter blicken.
Schweinchen Max in der großen Stadt. Er hat es nur bis Speremberg in Brandenburg geschafft. Doch auch in Berlin lassen sich Wildschweine immer öfter blicken.

© dpa

Man darf deshalb „Animal Aided Design“ keinesfalls mit konservativem Naturschutz verwechseln, sagt Hauck. Es gehe ihm nicht zuerst um Erhaltung, sondern um Gestaltung. Der klassische Naturschutz, sagt Hauck, hat zwei Probleme: Er wird als Verhinderer wahrgenommen, weil er als Gestalter nur den Zufall akzeptiert und das, was einmal da ist, unbedingt bewahren will. Andererseits wird er missbraucht. Die Gegner von Stuttgart 21 schoben die Sorge um den Juchtenkäfer nur vor – und den Gegnern der Dresdner Elbbrücke sei es in Wahrheit natürlich auch nie um die Fledermausart „Kleine Hufeisennase“ gegangen.

Für Berlin haben sie ihren Plan schon durchgespielt

Hauck dagegen möchte niemals Kröten einzeln über eine Straße tragen oder anderweitig der Natur unter die Arme greifen müssen, um einen zufälligen Status quo zu bewahren. Stattdessen hat er hier an der Gneisenau- und Yorckstraße mit Studenten durchgespielt, wie Stadtplanung mit Tieren aussehen könnte: Man muss sich die Fahrspur für Autos verringert vorstellen, die begrünte Mittelachse auf 18 Meter Breite erweitert, so entstünde über den neuen Park am Gleisdreieck hinweg eine 3,5 Kilometer lange Fahrradschnellstraße, gesäumt von Baumreihen, vom Südstern bis zur Gedächtniskirche. Der geschützte Mittelstreifen biete dann Heimat für Rotkehlchen, Zwergfledermaus und Nachtigall. Ideal als Singwarten der Bodenbrüter, die wegen der verkehrsreichen Fahrbahn vor Hauskatzen geschützt seien, und als Jagdschneise für Fledermäuse. Der Mittelstreifen diene mit speziellen dornigen Gewächsen, Farnen, Moosen, nitratreichen Hochstauden und regenwurmreichem Boden als Brutstätte und Nährstofflager, Jagdrevier und Rückzugsraum.

Vielfalt in der Stadt ist ja nicht notwendig zur Erhaltung des Planeten, sagt Hauck nüchtern. Warum haben dann so viele Städte ein Ideal von Vielfalt für Mensch und Tier? „Weil wir sie schön finden!“, sagt Hauck. Tiere befriedigten ein über Jahrhunderte gepflegtes ästhetisches Empfinden, ein Idealbild von der Natur, das sich in den vielen Gemälden, der pastoralen Szene von Schäfern in der Landschaft zeigt und etwas von Balance und Harmonie erzählt. Diese Naturszenen spielen sich allerdings meist außerhalb der Städte ab.

Aber nun bräuchten sie dringend Praxis in der Stadt, um zu sehen, ob ihre Thesen funktionieren, sagt Wolfgang Weisser, der Biologe im Team. Er forscht an der TU München am Fachbereich für Terrestrische Ökologie – ganz so, als gäbe es auch eine extraterrestrische. Weisser testet schon seit Jahren an Wiesen, wie die biologische Vielfalt das Funktionieren eines Ökosystems beeinflusst. In München arbeiten sie jetzt mit der Wohnungsbaugesellschaft Gewofag an einem Siedlungsbau – es wird das erste Beispiel für „Animal Aided Design“. Zauneidechsen sind gewünscht, Vögel und Igel. Ihre Bedürfnisse und deren Befriedigung sind in den Plänen markiert.

Es sind nicht die Krümel, die Spatzen anlocken

Igel brauchen ein großes Revier. Wenn sie unter den Zäunen hindurch können, hilft ihnen das schon enorm. Stadtplanerisch könnte man darauf Rücksicht nehmen.
Igel brauchen ein großes Revier. Wenn sie unter den Zäunen hindurch können, hilft ihnen das schon enorm. Stadtplanerisch könnte man darauf Rücksicht nehmen.

© dpa

Weisser kann seine Unzufriedenheit mit der gegenwärtigen, deutschen Naturschutzpraxis nicht verhehlen. Die tatsächlichen Effekte von städtischen Ausgleichsmaßnahmen würden gar nicht kontrolliert. Und dann die Umsiedlungen! Für sehr viel Geld würden da Arten umgesetzt. Aber damit sei es dann getan – niemand kontrolliere die Auswirkungen. „In diesem Land wird sehr viel Geld für Umweltmaßnahmen ausgegeben – aber wir kriegen viel zu wenig dafür“, sagt Weisser.

Es helfen oft Kleinigkeiten, sagt Thomas Hauck in Berlin. Sie kosten nicht viel, hauptsächlich Gedanken. Um zum Beispiel den Münchner Igeln ihr benötigtes Terrain zu ermöglichen, das ja größer sein muss als ihr Bauvorhaben, arbeiten sie mit den angrenzenden Kleingärtnern zusammen: Die sollen ihre Zäune unten öffnen, damit die Igel darunter hindurchschlüpfen können.

Am Boden um das Café bei „Mr. Minsch“ hüpfen nun ganz zeitgenössisch die Spatzen, alias „Haussperlinge“. Dass der Vogel Berlin so unbekümmert bevölkert, sagt Hauck, liege vor allem an der legendären Unaufgeräumtheit Berlins. Brachen, Schlaglöcher, also Mulden in Teer und Gehsteigen – das alles sind Orte, an denen sich nach einem Regen Pfützen bilden können, die als Badeorte taugen. Außerdem brauche der Spatz, um sich von Parasiten zu befreien, regelmäßige Staubbäder: offene Baumscheiben, ungepflegte Grünflächen dienen als Staubbadewannen.

Ein großer Irrtum zu glauben, die Spatzenschwärme am Gendarmenmarkt seien wegen der Konditor-Krümel im Café dort. Spatzen, sagt Hauck, haben einen erstaunlich kleinen Radius. Alle ihre weitergehenden Bedürfnisse, von der Brut bis zum Staubbad, müssen ebenfalls in einem Umkreis von 500 Metern gegeben sein. In Wahrheit sind sie dort wegen der Staubbadewannen unter den Kugelahornen hinter dem Französischen Dom.

Die Spatzen nisten, wo es ihnen gefällt. Je mehr man über sie erfährt, desto besser kann man steuern, wo sie sich niederlassen.
Die Spatzen nisten, wo es ihnen gefällt. Je mehr man über sie erfährt, desto besser kann man steuern, wo sie sich niederlassen.

© Thilo Rückeis

Auch wenn Hauck nun ungern als Befürworter einer verschlunzten Stadt dastehen möchte, muss er doch sagen, dass bei aller Ordnung und Begradigung immer auch die Nischen für Tiere vernichtet werden. Brachflächen, die in einer Stadt wie Berlin manchmal jahrelang unangetastet bleiben, können sich in wertvolle Lebensräume verwandeln.

„Am Anfang stand die Erkenntnis: Die Romantiker sind wir.“ Wir Menschen, sagt Hauck, lassen uns ja von Bildern leiten, die unsere Idee von Biotopen ausmachen. „Die Tiere brauchen aber keine hübsche Hecke.“ Sie müssen keine Bilder erfüllen, sondern haben konkrete Bedürfnisse. Die Bedingungen für ihren erfolgreichen Lebenszyklus, die Erhaltung der Art, können auch ganz anders geschaffen werden.

Die Nachtigall zum Beispiel ist ein Bodenbrüter, der Schutz vor Nesträubern braucht.

Wohnbedingungen für Tiere - wie aus dem Ikea-Katalog

Das kann eine dornige Hecke, aber genau so gut ein Berliner Gerümpelhaufen leisten. „Katzen-Abwehr“, sagt Hauck, spielt in städtischen Zusammenhängen eine große Rolle.

Lange glaubte man, Kultur und Natur schlössen sich aus, sagt Hauck. Mensch sei Kultur, Tier sei Natur. Weshalb Tiere in die Landschaft und Menschen in die Stadt gehörten. Als mit der Moderne auch die Nutztiere, die Kühe und die Schweine aus den Städten verschwanden, war die Bedeutung von Tieren in der Stadt auf ein „hygienisches Problem“ geschrumpft. Das habe sich mit der Landlust wieder geändert.

„Wie im Ikea-Katalog“ würde Hauck gerne die Wohnbedingungen der Arten zusammenstellen. „Eine Checkliste für Gestalter“ schwebt ihm vor. Eine Bedienungsanleitung für Wildtiere in der Stadt. Eine Fibel, die die Arten nicht nach Vorkommen beschreibt, sondern mit ihren konkreten Bedürfnissen von der Brutzeit bis zur Futtersuche vorstellt, die die Stadtplaner dann benutzen können. Bislang haben sie auf diese Art Buntspecht, Haussperling, Nachtigall, Rotkehlchen, Zwergfledermaus und die Zauneidechse dargestellt. „Um den Fuchs muss man sich keine Sorgen machen – der sorgt für sich selbst“, sagt Hauck. Ebenso wie der Waschbär.

Waschbären finden sich auch ohne tiergerechte Stadtplanung sehr gut zurecht. Dieses Exemplar ist allerdings ein ausgestopftes Ausstellungsstück im Naturkundemuseum.
Waschbären finden sich auch ohne tiergerechte Stadtplanung sehr gut zurecht. Dieses Exemplar ist allerdings ein ausgestopftes Ausstellungsstück im Naturkundemuseum.

© dpa

Tatsächlich sind ja einige Tiere den Städtern längst zu dominant geworden. Niemand war erfreut, als Wildschweine jenseits aller Pietät den britischen Soldatenfriedhof an der Heerstraße umpflügten. Den Tauben ersetzt man ihre Eier mit solchen aus Kunststoff, auf denen sie dann ewig sitzen bleiben und erfolglos brüten sollen. Und auf dem Wildschwein-, Fuchs- und Igel-Sichtungsportal www.portal-beee.de kann man melden und genau nachlesen, an welchen Stellen zu welcher Uhrzeit sich Mensch und Tier ins Gehege geraten.

Umso wichtiger, sagt Hauck, dass man ganz genau die Bedürfnisse einer Art kennt. Denn mit diesem Wissen kann man Tiere ja auch wieder loswerden. Es hilft ja wenig, nicht mehr vom Teller zu krümeln, um den Spatzen ihre Grundlage zu entziehen. Es würde aber helfen, Bade- und Staubmöglichkeiten zu entfernen. Ausgerechnet in einem so alten und vermeintlich ausgeforschten Gebiet wie der Zoologie sind die Forscher auf Wissenslücken gestoßen. Die Wissenschaft beschreibt ja immer die Vorkommen einer Art – über die Bedingungen für diese Vorkommen wisse man aber so gut wie nichts. Muss man aber, wenn man nicht nur irgendwelche, sondern bestimmte Tierarten anziehen will. Die Bahn zum Beispiel stehe mit ihren Arbeiten an den Bahndämmen immer wieder in der Kritik. Scharf gemähter Rasen gilt als schlecht für Wildtiere – aber zum Beispiel die Amsel finde dort besser Regenwürmer als in einer wilden Wiese. „Und für Zauneidechsen bieten Bahndämme geradezu ideale Bedingungen.“

Stadtplanerisch eine Katastrophe, für die Tiere ein Paradies

Hauck führt dann noch in die Donaustraße, gegenüber dem Stadtbad Neukölln. Seine Wohnung liegt um die Ecke, und so beobachtet er sozusagen unfreiwillig die Entwicklung des sogenannten „AOK-Platzes“. Stadtplanerisch sei der natürlich eine Katastrophe, sagt er und zeigt auf Kriechwacholder und die typische Berliner Ungepflegtheit inklusive Graffiti und Matratze. Aber für die Tiere? Ein Paradies.

Menschen gehen in die Städte, weil sie dort wilder leben können als auf dem Land, heißt es. Hier gebe es Befriedigung für alle möglichen Bedürfnisse. Möglich, dass das auch für Tiere gilt.

Das war Folge 1 unserer Serie "Auf der Fährte" über wildes Leben in Berlin und Umgebung. Alle weiteren Teile finden Sie bald hier, auf unserer Reportageseite

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