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Immer mehr Geringverdiener gibt es in Berlin. Für sie ist die Suppenküche der letzte Ausweg, um ihre Mahlzeiten zu sichern, wenn der Verdienst nicht reicht.

© dpa

Serie "Berlin hat die Wahl" (3): Armut: Kinder und Alte nicht vergessen

Die Zahl der Hartz-IV-Empfänger ist groß, die der Geringverdiener steigt unaufhaltsam. Kinder- und Altersarmut sind kein Tabuthema mehr.

Jedes dritte Kind in Berlin ist arm, und fast die Hälfte aller Kinder wächst in Haushalten auf, die auf staatliche Unterstützung angewiesen sind. Diese Eltern können ihren Kindern keine Kino- und Theaterbesuche spendieren, sie nicht in Sportvereine schicken, weil allein schon das Geld für die nötige Ausrüstung fehlt. Kurzum, Kinder aus armen Familien sind „benachteiligt bei der Nutzung von Bildungsangeboten“, wie es im Sozialbericht des Senats heißt. Und weil sich die Armut konzentriert in den Brennpunkten der Stadt, wo das soziale Klima rau, aber die Mieten niedrig sind, droht sich die Armut von Generation zu Generation zu vererben. Arm sind nicht nur Erwerbslose, sondern auch Beschäftigte, deren Einkünfte nicht ausreichen für den Lebensunterhalt . Deren Zahl wächst rasant, von knapp 100 000 im Jahr 2007 auf gegenwärtig mehr als 128 000. Wer arm ist, wird öfter krank: falsche Ernährung, zu wenig Bewegung, zu viel Alkohol und Tabak. Das liegt nicht nur daran, dass zu wenig Geld da ist für gesunde Nahrungsmittel. Sozialforscher sehen einen Zusammenhang zwischen Bildung und gesunder Ernährung. Arme Kinder leiden häufiger an Übergewicht. Auch Karies im Kindesalter gibt es besonders häufig in Familien mit geringem Einkommen. Armut im Alter war in Berlin lange Zeit kein Thema. Doch in den letzten fünf Jahren verdoppelte sich die Zahl der Menschen, deren Rente so gering ist, dass sie zusätzlich staatliche Hilfe benötigen. Oft sind es Migranten. Sie kamen als Gastarbeiter, haben häufig nach der Wende ihre Jobs verloren und verfügen deshalb nur über geringe Altersbezüge. Mittlerweile sind weit mehr Beschäftigte von Altersarmut bedroht. Eine lückenlose Biografie ist heute im Erwerbsleben eher selten. Selbstständigkeit und Projektarbeiten gehören zum Alltag, reißen aber oft Lücken in die Altersversorgung.

Was Wähler kritisieren:

Ich habe einen Job und kann davon nicht leben – ist das gerecht?

„Ich bin bereit zu arbeiten, aber nur für ordentliches Geld.“ Im Winter kann der 35-jährige Stephan Frenzel bei der BSR im Winterdienst mithelfen. Trotzdem reicht es oft nicht zum Leben. Am Abend geht er Flaschen sammeln. Nur auf die Stütze möchte er sich eigentlich nicht verlassen. „Manchmal geht es nicht anders“, gibt er zu. Früher habe er häufiger für Zeitarbeitsfirmen auf dem Bau geschuftet, die gleiche Arbeit wie alle anderen gemacht. „Für fünf Euro die Stunde arbeite ich jetzt nicht mehr“, sagt er stolz. Lieber wohnt er weiter bei seiner Mutter. Die unterstützt ihn nach Kräften. Ein guter Job wäre aber besser, findet Frenzel. Er wolle ihr nicht zur Last fallen. sny

Haben Kinder aus Hartz-IV-Familien schlechtere Chancen?
„Ich versuche, meinen Kindern alles zu ermöglichen“, sagt Daniel Nordengrün. Der 37-Jährige ist alleinerziehender Vater und Hartz-IV-Empfänger. Seine beiden Kinder sind sein Ein und Alles. „Aber es gibt einfach Dinge, die wir uns nicht leisten können.“ Seine 11-jährige Tochter liebt es zu schwimmen. Doch das Geld für den Schwimmverein sei einfach nicht da. Unlängst habe das Arbeitsamt einfach vergessen, das Schulgeld zu zahlen. So reichte es nicht für Hefte, Bücher und Stifte. Statt den Fehler auszubügeln, verwickelte das Amt die Familie in einen Papierkrieg. „Das ist nicht gerecht.“ Auch wenn er sich noch so anstrengt, seine Kinder hätten nie die gleichen Chancen wie Kinder aus wohlhabenden Familien, meint Nordengrün. sny

Wird Berlin künftig die Hauptstadt der armen Alten sein?

„Mir graust es vor dem Älterwerden“, sagt Peter B. Der 58-Jährige ist ALG II Empfänger, seinen Nachnamen möchte er nicht in der Zeitung lesen. Er fürchtet gesellschaftliche Ausgrenzung. Viele Jahre hat er als Kraftfahrer gearbeitet, doch seine Rente wird wohl nicht über der Grundsicherung liegen. Hoffnung, noch einen Job zu finden, hat er nicht. „30-Jährige wollen die haben, die Alten will doch keiner“, sagt er bitter. Das Schreiben von Bewerbungen hat er aufgegeben, und wie ihm gehe es sicher vielen. Vor seinem Fenster sieht er alte Menschen nach Pfandflaschen im Müll wühlen. „Ist das nicht der pure Wahnsinn?“ Auf den Staat oder gar Besserung hofft B. nicht. „Wir müssen uns zusammenschließen, gemeinsam etwas auf die Beine stellen.“ sny

Was Fachleute vorschlagen:

Vollzeitarbeit muss sich wieder lohnen

„Es wäre wünschenswert, dass jeder Beschäftigte allein von seinem Lohn leben kann, ohne dass er Zusatzleistungen in Anspruch nehmen muss. Aber nicht der Stundenlohn entscheidet darüber, ob das Arbeitseinkommen für den Lebensunterhalt ausreicht, sondern die wöchentliche Arbeitszeit. Die Mehrzahl der Aufstocker, die zusätzlich zum Arbeitseinkommen noch Arbeitslosengeld beziehen, sind in Mini- oder Midijobs beschäftigt. Ihr Verdienst wäre natürlich höher, wenn sie Vollzeit arbeiten würden. Oft lohnt sich das für den Einzelnen nicht, weil ihm nach Steuern und Abgaben kaum mehr Geld netto übrig bleibt. Das muss sich ändern. Es müssen Anreize geschaffen werden, eine Vollzeitbeschäftigung aufzunehmen. Eine gute berufliche Qualifikation schafft die besten Voraussetzungen für eine Beschäftigung mit attraktivem Verdienst. Dazu gehört neben einer abgeschlossenen Berufsausbildung auch eine permanente Weiterbildung im Laufe des gesamten Berufslebens. Die Löhne und Gehälter werden von den Tarifpartnern ausgehandelt und so entsteht ein gerechter Wert der Arbeit.“ ball

Jan Eder, Hauptgeschäftsführer der Industrie- und Handelskammer Berlin, empfiehlt Qualifikation und lebenslanges Lernen als Ausweg aus dem Niedriglohnsektor.

Wir müssen Hartz-IV-Kinder fördern

„Hartz-IV-Kinder haben keine Chance, weil die Bildung eines Kindes vom Einkommen der Eltern abhängt. Und das Bildungspaket hilft ihnen auch nicht weiter, weil es intransparent ist und nicht mehr Leistungen beim Kind ankommen. Was wir brauchen, sind Vermittler und Vertrauenspersonen an den Schulen, die die Kinder kennen und ihre Defizite auch. Die können dann individuell die passenden Leistungen abrufen. Auch die Einführung von Ganztagsschulen hilft Kindern aus Haushalten mit geringen Einkünften nicht. Denn die Betreuer werden für ganze Gruppen zuständig sein und nicht einem einzelnen Kind helfen können, das beispielsweise das Einmaleins nicht richtig gelernt hat. Hier ist eine individuelle Förderung nötig, die sich zurzeit aber nur Eltern mit hohen Einkünften leisten können. Alleinerziehende und Migranten, bei denen 80 Prozent der armen Kinder leben, können das nicht. Sie haben nicht die Mittel, die Zeit oder die Kenntnisse dazu. Die individuelle Förderung ist notwendig – aber dürfen wir uns die Bildung eines Kindes so viel kosten lassen? Wir müssen es! Denn alle reden über den Mangel an Fachkräften, schon deshalb dürfen Kinder von Hartz-IV-Empfängern nicht abgehängt werden.“ ball

Bernd Siggelkow wuchs in Hamburg auf und kam mit einem Predigerseminar der Heilsarmee nach Hellersdorf. Die Aktivitäten zugunsten von Kindern baute er zum Hilfswerk Arche aus.

Grundsicherung produziert Armut

„Ja, die Zahl der armen Alten steigt bis zum Jahr 2020 rasant. Denn in den kommenden Jahren gehen die geburtenstarken Jahrgänge in Rente. Gefährdet sind oft Geringverdiener und Migranten, die nur eine lückenhafte Erwerbsbiografie haben. Auch alleinerziehende Frauen sind von Altersarmut bedroht und mancher Berliner aus dem Ostteil der Stadt hat wegen des wirtschaftlichen Umbruches nach der Wende nur lückenhaft in die Rentenkassen eingezahlt. Berlin hat außerdem eine der höchsten Quoten von Hartz-IV-Empfängern. Und es gibt sehr viele Ein-Mann-Unternehmen, die 1000 Euro oder weniger verdienen. Die können sich in der Regel keine freiwillige Rentenversicherung leisten. Deshalb sind viele schlecht abgesichert für das Alter. Ganz besonders Hartz-IV-Empfänger, da sie ja bereits mit 60 in Rente gehen. Und weil während der Arbeitslosigkeit nicht für sie in die Rentenkasse eingezahlt wurde, werden viele mit der Grundsicherung leben müssen. Diese Regelung war falsch. Sie produziert Armut. Wer Hartz IV bekommt, der sollte weiterhin Rentenbezüge erhalten und auch seine private Vorsorge sollte nicht angetastet werden. Die allerbeste Prävention wäre aber ein anständiges Lohnniveau.“ ball

Barbara Riedmüller ist Professorin am Otto-Suhr-Institut für Politikwissenschaft der Freien Universität Berlin und war von 1989 bis 1991 Senatorin für Wissenschaft und Forschung in Berlin.

Was Parteien sagen:

Löhne und Tarife

Die SPD fordert in Deutschland und Berlin einen gesetzlichen Mindestlohn von 8,50 Euro. Dieser soll für die Linke „schnell auf 10 Euro steigen“ und außerdem müsse der Öffentliche Beschäftigungssektor ausgebaut werden. Die Grünen wollen durch die Förderung von Zukunftsbranchen und eine aktive Ansiedlungspolitik in der kommenden Wahlperiode 100 000 neue, vernünftig bezahlte Jobs schaffen. Auch die CDU nennt branchenspezifische Mindestlöhne und ordentliche Tarifabschlüsse den besten Schutz gegen Lohndumping. Die FDP will dort, wo die Wertschöpfung der Arbeit keinen höheren Lohn zulässt, den Lohn über staatliche Leistungen wie Wohngeld, Kinderzuschlag oder Arbeitslosengeld II ergänzen. ball

Bilden und helfen

Die SPD will die Hilfe näher zu den Bürgern bringen, etwa durch die Einrichtung von Familienzentren vor Ort und Kiez-Jobcentern. Die Linke will die soziale Mischung in den Stadtteilen erhalten, kostenfreies Mittagessen an Kitas und Grundschulen sowie Gemeinschaftsschulen und Ganztagsbetreuung fördern. Die Grünen wollen, dass alle Kinder ab drei Jahren für sieben Stunden pro Tag ohne Bedarfsprüfung die Kita besuchen dürfen und die Hartz-IV-Regelsätze am Bedarf orientieren. Die CDU ist dafür, Kinder aus armen Familien unentgeltlich an Freizeitaktivitäten teilnehmen zu lassen sowie ihnen Familienerholung und Familienurlaub zu ermöglichen. Die FDP setzt aufs Bildungspaket der Bundesregierung, das schnell und unbürokratisch durch Schulen eingesetzt werden soll. ball

Rente und mehr

Die SPD befürwortet ein „Miteinander der Generationen“, etwa durch den Ausbau von Mehrgenerationenhäusern, betreutes Wohnen und verbesserte Mitbestimmungsmöglichkeiten für Senioren. Für die Linke sollten Ältere durch den „Berlinpass“ Zugang zu Kultur, Sport und Freizeit erhalten. Die CDU will den Berlinpass auch alleinstehenden Rentnern zubilligen, die etwas mehr als die Grundsicherung bekommen. Für die Grünen ist die Selbstbestimmung wichtig, deren Verwirklichung nicht an ein Lebensalter, den Gesundheitszustand, den finanziellen oder ethnischen Hintergrund, die sexuelle Identität oder eine Behinderung gekoppelt sein darf. Die FDP hofft, Altersarmut durch die Schaffung von „guten Arbeitsplätzen“ auch für Menschen mit geringer Qualifikation zu stoppen. ball

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