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Die Oberbaumbrücke verbindet Friedrichshain und Kreuzberg.

© picture alliance / dpa

Serie: Bezirke vor der Wahl: Friedrichshain-Kreuzberg - das gallischste Dorf der Welt

Opponieren, aussitzen, wegmoderieren – nirgendwo sonst in Berlin beherrscht man das so perfekt wie hier. Der Ost-West-Kontrast ist darüber längst verschwunden. Teil 2 unserer Bezirksserie.

Ihr Öko-Parteien der Welt, blickt auf diesen Bezirk! Egal, was auch passiert, hier wird Grün gewählt. Die Bürgermeisterin ist grün, der Bundestags-Wahlkreis gehört dem grünen Altvorderen Christian Ströbele, und die Wählerschaft steht geschlossen gegen Zumutungen der Moderne wie Atomenergie, Gentechnik, Massentierhaltung und Polizeibeamte. Kurz: Dies ist ein Bezirk, dessen Bürger und Funktionsträger enorm viel Energie in die Opposition zur Senatspolitik stecken (und umgekehrt). Dies wird vermutlich auch kein Wahlergebnis ändern, so sind sie einfach in diesem gallischsten Dorf der Welt.

Egal, wie hoch die Probleme auch wogen – hier ist immer Zeit für inbrünstige Debatten um Zeitreisen, Gendertoiletten und vermeintlich sexistische Werbung auf den bezirkseigenen Werbeflächen. Vermutlich gibt es in ganz Deutschland auch keine andere Kommune, die ihre Drogendealer halboffiziell bitten würde, doch nicht immer so garstig zu den Passanten zu sein, die ihnen nichts abkaufen wollen. Der unbedingte Glaube, jedes Problem durch eine Kombination von Aussitzen und Wegmoderieren in den Griff bekommen zu können, ist ein Kreuzberger Spezifikum, das längst auch den einstigen Ost-Berliner Bezirksteil jenseits der Spree angesteckt hat.

Florierende Partyzone

Aber trotz solcher sehr speziellen politischen Hakeleien bildet Kreuzberg mit seinem Gegenüber Friedrichshain auch eine Gegend, in der es sich einfach gut leben lässt, vor allem, wenn man jung und erlebnishungrig ist. Kreuzberg-Friedrichshain ist eine florierende Partyzone, in der verkeimte Punk-Keller ebenso Platz haben wie die großmächtige Mercedes-Benz-Arena und das düstere Berghain, der weltbekannte Techno-Schuppen, der die beiden Bezirksteile sogar im Namen vereint.

Die Rigaer Straße in Friedrichshain umspannt beide Welten mit eleganten Neubauwohnungen auf der einen und dem besetzten, heftig umkämpften Haus Nr. 94 auf der anderen Seite. Grüne Inseln wie die Halbinsel Stralau oder der Landwehrkanal helfen Bewohnern wie Besuchern beim Stressabbau. Im Graefekiez weiter westlich fühlt sich das intellektuelle und etablierte Publikum mindestens so wohl wie in Wilmersdorf und Friedenau, und die Bergmannstraße ist mit ihren Restaurants, Kneipen und speziellen Geschäften schon so etwas wie ein Boulevard des alternativen Bürgertums geworden, das den baulichen Status quo beharrlich gegen alle Änderungsbestrebungen verteidigt.

Die Bezirksreform 2001 hatte hier ihre wohl schwierigste Schnittstelle zu bewältigen. Denn was hatte das westlich-alternativ geprägte Kreuzberg mit dem kleinbürgerlichen, nach DDR und Zweitaktbenzin müffelnden Friedrichshain zu schaffen? Doch dann breitete sich der Kreuzberger Stil einfach und überraschend schnell lässig über die Spree aus, die Simon-Dach-Straße zog bald mehr Touristen an als der Oranienplatz, die East Side Gallery verdrängte in den Reiseführern den Landwehrkanal. Und die Oberbaumbrücke wandelte sich vom Symbol der Trennung zur wichtigen Verbindungsader, U-Bahn eingeschlossen.

Allein sechs Michelin-Sterne in Kreuzberg

Der Bezirk bezieht seine Attraktivität aber nicht nur aus der Beschäftigung mit sich selbst, sondern auch aus touristischen Glanzpunkten, die in keinem Reiseführer fehlen. Das Jüdische Museum zählt zu den bedeutendsten Einrichtungen seiner Art, es ist ein Zentrum des Holocaust-Gedenkens und eine Ikone der expressiven Architektur. Am Checkpoint Charlie stehen Devotionalien und Mauerkitsch gleich neben der seriösen Aufbereitung der Mauer-Geschichte im Museum.

Auch das im Vergleich banale kulinarische Erleben hat hier längst seine Heimat gefunden. Allein sechs Michelin-Sterne leuchten über Kreuzberg, und das Restaurant des Starkochs Tim Raue in der Rudi-Dutschke-Straße gilt aktuell sogar als Nummer 35 weltweit, vor der gesamten deutschen Konkurrenz, ausgebucht auf Monate. Daneben ist in beiden Bezirksteilen eine unüberschaubare Zahl von weiteren Weinbars, Kneipen und Restaurants getreten, die die Versorgung von Anwohnern und Touristen praktisch rund um die Uhr sicherstellen. Nur noch wenige erinnern sich an die Zeiten, als eine linksradikale „Kiez-Mafia“ edle Speisestätten aus dem Bezirk ekeln wollte – die Zeichen stehen längst auf friedliche Koexistenz.

Und wer macht das Rennen ums Rathaus? Lesen Sie hier mehr über die Politiker und Prognosen im Bezirk.

Teil 1 unserer Bezirksserie zur Berlin-Wahl lesen Sie hier: Charlottenburg-Wilmersdorf.

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