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Foto: Verena Eidel

© Verena Eidel

Serie Stadtmenschen im Sommer: Das schwimmende DDR-Museum

Schiffsführer Wolfgang Lange kennt die Spree: Seit zehn Jahren fährt er Touristen mitten durch Mitte. Für den sechsten Teil unserer Serie war unsere Autorin zu Besuch im Steuerstand der Milan.

Noch zehn Minuten bis zur Abfahrt. Am Himmel türmen sich Gewitterwolken, aber noch scheint die Sonne an der Anlegestelle am Monbijoupark. Schiffsführer Wolfgang Lange begrüßt jeden Passagier freundlich mit der obligatorischen Frage: „Hello! Which language?“ Er überreicht einen Audio-Guide für Ausflugsschiffe und erklärt: „Tippste Russisch an, gibt’s was auf die Ohren.“

Humor und Berliner Schnauze sind Alltag auf der Milan, eines der älteren Schiffe in der Flotte der Stern- und Kreisschiffahrt Berlin, von Lange auch scherzhaft als DDR-Museum bezeichnet. Seit 1976 im Einsatz, erfordert der 149 Passagiere fassende Kahn (89 oben, 60 unter Deck) einen erfahrenen Kapitän, denn ohne Bugstrahlruder ist die Milan sehr wind- und strömungsanfällig. Was damit gemeint ist, demonstriert Lange beim Anlegen nach dem Gewitter eindrucksvoll: Regenwasser ergießt sich in die Spree, und damit es keine Schrammen gibt, muss Lange genau manövrieren. Aber er und sein Bootsmann sind ein eingespieltes Team, alles geht glatt.

Sechs Mal am Tag, sechs Tage die Woche

Seit 2006 kreuzt Wolfgang Lange durch Mitte, seit zehn Jahren die immer gleiche City-Tour: durch das Nikolaiviertel, dann an der Museumsinsel vorbei bis zum Regierungsviertel und zurück zur Anlegestelle „Alte Börse“. Sechs Mal am Tag, sechs Tage die Woche, von Ostern bis November. Ist es nicht furchtbar langweilig, jeden Tag dieses kleine Stück Spree entlangzuschippern? Lange winkt lächelnd ab: „Andere gehen jeden Tag ins Büro, ich bin wenigstens an der frischen Luft und jeden Tag im Herzen Berlins unterwegs. Jeder Tag ist anders, schon weil die Passagiere immer andere sind.“

Dass keine Langeweile aufkommt, dafür sorgt auch der rege Funkverkehr mit den anderen Ausflugsschiffen. Die engen Passagen und vielen Biegungen der Spree erfordern ständige Absprachen. Wolfgang Lange erkennt die anderen Schiffsführer an der Stimme, der Ton ist locker, viele Berliner Schnauzen sind darunter. Hin und wieder gerät die Routine-Tour zum Abenteuer: Als ein Teppich die Schiffsschraube blockierte, musste die Crew der Milan außerplanmäßig an der Bundestagskantine festmachen und einen Taucher ordern. Teppiche sind nicht die einzigen Gebrauchsgegenstände, die auf dem Spreegrund liegen und jedes Jahr für Ärger sorgen: Einkaufswagen, Fahrräder, Tresore – es ist schon enorm, was dort alles landet.

Wie sein Schiff hat auch Lange eine DDR-Vergangenheit. Aufgewachsen in Friedrichshagen, kannte er Ausflugsschiffe wie die MS Picasso oder die MS Löcknitz – ältere Berliner werden sich erinnern – aus seiner Kindheit. Er entschloss sich zu einer Ausbildung zum Binnenschifffahrt-Matrosen, das Patent zum Schiffsführer machte er jedoch erst Jahrzehnte später. Dazwischen lag eine Flucht in die BRD (im August 1989) und eine Karriere als Schmuckverkäufer im nordhessischen Spangenberg. Zurück an der Spree, landete er eher zufällig am Steuer der Milan und kann sich jetzt bis zu seiner Pensionierung nichts anderes vorstellen, als Berlin-Touristen vom Wasser aus die Stadt zu zeigen.

Entspannen an der nahegelegenen Strandbar

Und was macht ein Spreekapitän in seiner Freizeit? Als Friedrichshagener kennt er die großen und kleinen Badestellen am Müggelsee ganz genau und versichert: Die meisten sind so lauschig wie eh und je. Man findet sie zum Beispiel rund um den Spreetunnel (20 Minuten Fußweg vom S-Bahnhof Friedrichshagen), wo die Müggelspree in den Müggelsee mündet.

Eine Strandbar und das Seebad Friedrichshagen sind ganz in der Nähe, da lässt sich ein heißer Sommertag problemlos aushalten. Außerdem frönt Wolfgang Lange einem Hobby, das in Berlin ideale Bedingungen und viele Begeisterte findet: Er tingelt über Flohmärkte. Dabei durchkämmt er die Stände gezielt nach antikem Schiffszubehör, von der Ankerlaterne bis zum Typhon hat er schon manche Rarität erstanden.

Den Antikmarkt am Ostbahnhof und den auf der Museumsinsel kann er besonders empfehlen. Aber am liebsten ist er auf der Spree unterwegs und hat einen Tipp für alle, die schon länger mit dem Gedanken spielen, sich auch einmal auf eines der blau-weißen Ausflugsschiffe zu wagen: Von Mitte bis Ende September kann man auf der letzten Runde (Abfahrt 18.15 Uhr) an der Lutherbrücke die Sonne untergehen sehen. Dem Abendhimmel entgegen führen auch andere Routen , und die Berliner tun gut daran, diesen Blick auf die Stadt nicht allein den Touristen zu überlassen.

Mehr Berliner mit interessanten Geschichten haben Lucia Jay von Seldeneck und Verena Eidel recherchiert: „111 Berliner, die man kennen sollte“ ist vor Kurzem im Emons Verlag erschienen (240 Seiten, 16,95 Euro).

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