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Berlin: Seziertes Leben

Unter den Gerichtsmedizinern war er der Superstar, der DDR stets zu Diensten. Nun hat einer seiner Schüler ein Buch über Otto Prokop geschrieben.

Ein Buch zu schreiben über Otto Prokop, den Gerichtsmediziner mit den drei Pässen von Österreich, BRD und DDR, ist leicht – sollte man denken. Natürlich ist er jemand, der in seinem Leben vor allem mit Toten zu tun hatte und 45 000 Leichen begutachtet hat, ein Mensch mit einem ungewöhnlich schaurigen Beruf. Er suchte die Wahrheit, wie, wann und unter welchen Umständen jemand umgekommen ist. Doch dem Forscher im weißen Kittel genügte es nicht, Rätsel zu lösen. „Während der Zeit seines Wirkens hat Prokop in beiden deutschen Staaten maßgeblichen Einfluss auf den systematischen Ausbau der Gerichtlichen Medizin ausgeübt und eine eigene wissenschaftliche Schule aufgebaut. Auch auf den Gebieten der Blutgruppen- und Serumgruppenkunde, der Genetik und der Krebsforschung wirkte er erfolgreich“, schreibt Wikipedia. Prokops wissenschaftliches Werk umfasst 600 Originalarbeiten, fast 500 größere Vorträge, wichtige Fachbücher, darunter das „Lehrbuch der gerichtlichen Medizin“, ein Standardwerk. Jetzt hat Kriminalbiologe Mark Benecke das Leben von Otto Prokop seziert.

Der blitzgescheite Mann mit dem fragenden Blick hinter der großen Brille hatte einen großen Vorrat an Wiener Charme. Seine Vorlesungen waren überfüllt, Prokop gab seinen Blutgruppengutachten bei Vaterschaftsprozessen eine Wahrscheinlichkeit von 98 Prozent. Der Mann mit Baskenmütze und Fliege – von ihnen besaß er fast 250 – ging auch noch im hohen Alter, stets mit einem Einkaufsbeutel in der Hand, in sein Institut in der Hannoverschen Straße 6.

Die Schüler von einst sind längst die Chefs von heute. Wenn der Prof in sein Emeritus-Zimmer kam, schaltete er das Klassik-Radio ein, setzt sich unter üppige Blumenbilder, die seine Mutter für ihn gemalt hatte, klappte die Schreibmaschine auf und beantwortete Briefe oder schrieb Bücher. Oder er fotografierte – mit einer seiner 300 Leicas, die er später dem Kulturbund schenkte. Die Liste seiner Auszeichnungen reicht vom DDR-Nationalpreis erster Klasse bis zum japanischen „Stern der aufgehenden Sonne mit goldenen Strahlen“. Im Januar 2009 starb Otto Prokop im 87. Lebensjahr, er ruht auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof, nahe seinem einstigen Arbeitsplatz.

Nun hat die schillernde Persönlichkeit des Mannes, der mitten im Kalten Krieg, 1956, in Bonn dem Ruf der Humboldt-Universität folgte und „in die Zone“ kam, einem seiner Schüler und Bewunderer keine Ruhe gelassen. Kriminalbiologe Mark Benecke, auch Kolumnist bei Radio Eins, versucht wie mit einem Skalpell, die Adern, Herzkranzgefäße und Hirnzellen des Meisters zu ergründen und ihr Zusammenspiel zu entschlüsseln. Das war nicht leicht, denn Prokop wurde plötzlich nach der Wende, als die Sieger plötzlich das Sagen hatten, wortkarg und scheu. Zudem hält die Familie die Autobiografie unter Verschluss, und auch Freunde und Kollegen entziehen sich einer Meinung. Bis auf einige, deren Interviews zeigen, wie der Wissenschaftler dachte und stets der reinen Lehre zu dienen bereit war. „Ich habe nie einer Partei angehört“, sagt er. Untersuchte Maueropfer, schrieb Gutachten, die die Stasi umfrisierte und wegsperrte. Und war nach der Wende sauer über die „Strafrente“, die ihm als Chef eines „kommunistischen Charité-Institus“ jeden Monat überwiesen wurde.

Der medizinische Wanderer zwischen den Welten, der immer mal schnell in der Invalidenstraße über die Grenze ging, um eine Westzeitung zu kaufen, hatte ein spannendes Leben. Vielleicht nahm man ihm im Westen übel, dass er auf seinem Fachgebiet der DDR eine solche Reputation verschaffte. Jedenfalls bekennt der Autor im Nachwort, dass sein Text „auf der ausführlichsten, längsten, zähsten und teuersten Recherche“, beruht, die er je durchgeführt hat. Es lohnte sich – und dennoch bleiben Fragen offen. Lothar Heinke

Mark Benecke: Seziert – Das Leben von Otto Prokop. 300 Seiten, Das Neue Berlin, 19,99 Euro.

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