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Berlin: Sie kamen in schier endlosen Schüben

West-Berliner trauten ihren Augen nicht, als sie Tausende von Hennigsdorfer Stahlarbeitern kommen sahen. Es gab zwei Möglichkeiten: solidarisch mitlaufen – oder wenigstens unterstützend beobachten

DER AUFSTAND VOM 17. JUNI 1953: ZEITZEUGEN BERICHTEN

Die Besprechung bei Konrad Adenauers Mann in Berlin fiel unerwartet kurz aus. Abrupt beendete der Bundesbevollmächtigte Heinrich Vockel am 17. Juni 1953 die Runde, als ihm die Meldung hereingereicht wurde, die ihn elektrisierte: Die Hennigsdorfer Stahlarbeiter marschierten durch West- Berlin zum Regierungssitz der DDR an der Leipziger-/Ecke Wilhelmstraße.

„Das war eine neue Lage. Es war das Zeichen, dass der Aufruhr auf die Zone übergesprungen war“, sagte Egon Bahr, der als Chefredakteur des Rias in der Vockel-Runde dabei war. Zudem war der 17. Juni damit auch ein West-Berliner Ereignis. Für den späteren Regierenden Bürgermeister Klaus Schütz als West-Berliner war der Marsch der Hennigsdorfer „das beeindruckendste Erlebnis“. Zeitzeugen versichern, dass sie total überrascht waren. Die Polizei war offenbar nicht ahnungslos. Helmut Arndt (82) war Vorsteher des Polizeireviers 297 im Reinickendorfer Ortsteil Heiligensee. Er wurde am 17. Juni bereits kurz nach Mitternacht vom Kommando der Schutzpolizei geweckt und zum sofortigen Dienstantritt befohlen. Es sei mit Demonstranten aus dem nahen Hennigsdorf zu rechnen, sagte man ihm.

Am frühen Morgen kamen sie in schier endlosen Schüben. Arndt stand mit seinem Schupo-Trupp an der Grenze Wache. Die West-Polizei sollte Präsenz zeigen, aber die Demonstranten nicht zurückdrängen. Das versuchten die Volkspolizisten auf der Ostseite, doch sie kapitulierten vor den Massen, wie Arndt bezeugt. Er sah etliche die Waffen wegwerfen. „Wir hatten den Auftrag, alles in geordneten Bahnen zu halten und den Zug ein Stück zu begleiten“, erzählt er. „Aber es war ein ganz ruhiger Zug, und wir waren froh darüber.“

In der historischen Literatur ist von 6000 bis 15 000 Hennigsdorfern die Rede. Arndt bleibt bei seiner Schätzzahl von sogar 16000 bis 17000, die er in seinem Polizeibericht vermerkt hatte: „Es waren ja nicht nur Stahlarbeiter, sondern auch andere aus weiteren Orten.“ Das Rote Kreuz war sofort mit Getränken zur Stelle und die Tegeler Speditionsfirma Max Marotzke mit zwei Lastwagen für alle, die den langen Marsch nicht geschafft hätten. Vielen West-Berlinern hüpfte das Herz. Bei so viel Mut der Ost-Kollegen gab es nur eines: solidarisches Mitlaufen.

Der spätere Senator Kurt Naubauer hatte eine Laube in Heiligensee mit Blick über die Havel auf das Stahlwerk Hennigsdorf. Dort hielt er sich auf, „weil Schönwetter war“, und sah sie staunend kommen, „viele Tausend“. Auch er lief mit, aber nur „bis in den Wedding hinein“. Er musste vorsichtig sein. Er wohnte mit Frau und Kind in Ost-Berlin, war SPD-Kreisvorsitzender in Friedrichshain, saß im SPD-Landesvorstand – und als Ost-Berliner im Bundestag. In Berlin war das Unmögliche Realität. Die SPD hatte als einzige Partei bis zum Mauerbau einen Gesamtberliner Landesverband.

„Es war eine revolutionäre Stimmung“, erinnert sich Neubauer. „Unterwegs schlossen sich viele aus West-Berliner Betrieben an, die am Wegesrand lagen, von Borsig in Tegel, von der AEG und von Schering in Wedding.“ Auch Werner Dittrich (88), damals Vorstandsmitglied und später Vorsitzender der IG Bau, der in Heiligensee wohnte, marschierte mit und bezeugt, dass der Zug „schon bei Borsig mächtig aufgefüllt wurde, die hielt keiner auf.“ Viele waren Grenzgänger; sie wohnten im Osten und arbeiteten im Westen. Dittrich spricht von damals 2000 Ost-Berliner Mitgliedern der IG Bau. Es gab noch ein gemeinsames Lebensgefühl und ein gemeinsames Bewusstsein der demokratischen Arbeiterbewegung.

Die West-Kollegen machten sich nicht zu Wortführern, sondern waren unterstützende Beobachter. Das war Ehrensache und doch wenig. Die Alliierten achteten auf Zurückhaltung. Und die SPD in Ost-Berlin musste aufpassen. „Wir konnten nicht offen agieren“, sagt Neubauer. „Ich dachte auch, dass die DDR-Regierung kippt, wenn die durchmarschieren, aber das Eingreifen der Russen war zu erwarten.“ Statt zum Potsdamer Platz fuhr er in sein SPD-Kreisbüro am Boxhagener Platz. Dort beriet man gespannt abwartend die Lage. Auch von Angst vor der SED und der Stasi spricht er: „Aber sie haben uns nichts getan.“ Neubauer blieb bis zum Mauerbau der Ost-Berliner Grenzgänger im Bundestag.

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