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Berlin: Sie quälen sich aus der Sucht

Drogenentzug ist eine Tortur. Im „Countdown“ herrschen strenge Regeln, damit die Junkies den Ausstieg schaffen

Von Ingo Bach

In seinem Kopf hämmert der Schmerz. Schlaflos hat sich Andreas* durch die letzte Nacht gekämpft. Jetzt quält ihn die Angst vor der nächsten. Auch sie wird sich endlos dehnen, ohne dass der Körper zur Ruhe kommt. Seit drei Tagen ist der Junkie auf Entzug. Sein Organismus schreit nach Heroin. Doch trotz Kopfschmerzen, Unruhe und Schlaflosigkeit hat sich Andreas entschieden: Schluss damit! Wieder einmal. Schon dreißig Entgiftungen hat der 36-Jährige hinter sich. Die erste war 1989. Fast alles hat er schon probiert, hat Tabletten geschluckt und Ersatzgifte wie Methadon. Er hat im Krankenhaus entzogen und sich in Psychiatrien Psychopharmaka spitzen lassen. „Ich fühle mich wie ein Wurm, der langsam aus der Erde kriecht, aber der Wurm will auch immer wieder gern zurück.“ Die vielen Misserfolge gehören eben dazu, sagt er. „Ich sehe nicht, dass ich oft gescheitert bin, sondern, dass ich es immer wieder versuche.“ Jetzt versucht er es im „Countdown“. Die Entzugseinrichtung in der Frankfurter Allee ist mit 550 Behandlungen pro Jahr die größte Berlins. Das ganze Dachgeschoss des ehemaligen Fabrikgebäudes ist für den Entzug reserviert, der hier „kalt“ serviert wird. Das heißt, ohne Ersatzdrogen und ohne Medikamente. Im Countdown herrscht ein rigides Regiment: Wer mit Drogen erwischt wird, fliegt raus.

Die Kontrollen sind streng. Am Tag der Aufnahme und an jedem weiteren Therapietag wird der Urin getestet. Der Wert der Drogenabbauprodukte am Aufnahmetag ist die Messlatte, die ab jetzt nur noch unterboten werden darf. Steigt der Wert, folgt der Rausschmiss. Jeder weiß das – und dröhnt sich noch ein letztes Mal zu. „Jedes Gramm Stoff wird vorher platt gemacht“, sagt Andreas. Doch auch der allerletzte Rausch geht irgendwann vorbei. Dann kommen die Entzugserscheinungen.

Sechs Aussteiger sitzen zusammen um den Tisch, drängen sich in die Polster der Sitzgruppe. Insgesamt 50 Jahre Drogenkonsum und ein Umsatz von einer Million Euro. Sie wollen nicht mehr einzahlen in die Kassen der Dealer. „Ich habe aufgehört, aufhören zu wollen“, sagt Andreas. „Ich werde aufhören.“ Seine klar akzentuierte Sprache mit dem verschliffenen Hamburger Dialekt deutet auf einen wachen Geist, der die jahrelangen Betäubungsattacken überstanden hat. Andreas hat oft mit Psychologen und Sozialarbeitern zu tun gehabt, so etwas hinterlässt Spuren. „Ich bin eigentlich ein Typ, der alles immer mit sich selbst ausmacht. Besonders wenn es mir nicht gut geht, will ich meine Ruhe haben.“ Er wird still. Sein Kopf stützt sich auf die tätowierten Arme. Dann nimmt er einen tiefen Zug aus seiner Zigarette. „Es ist mir manchmal zu viel, wenn die Therapeuten und Pfleger im Countdown keine Ruhe geben.“

Freiheit und Selbstbestimmtheit spielen in dieser Welt nur eine untergeordnete Rolle. Diese Werte verlieren während einer Drogenkarriere an Bedeutung, wenn der einzige Gedanke heißt, wie komme ich an den nächsten Schuss, Joint oder Kick. Sucht hat nichts mit Freiheit zu tun, Entzug auch nicht.

23 Uhr! Nachtruhe! Der Pfleger schickt die Klienten ins Bett. „Ihr könnt noch eine letzte rauchen“, sagt Thorsten Walter*. Wahrscheinlich lernt man das hier, diesen Ton, als spräche man mit Kindern. Der 38-jährige Pfleger weiß, wie man sich fühlt, auch er war früher drogenabhängig. „Die brauchen Autorität und Beschäftigung.“

Die Grundregel des kalten Entzuges ist einfach: Bloß keine Langeweile aufkommen lassen! Damit sich die Süchtigen ihres Verlustes – denn genauso empfindet der Körper den Entzug – und der Schmerzen nicht bewusst werden. 7.45 Uhr wird geweckt, ab 23 Uhr ist Schlafenszeit. Dazwischen Therapiesitzungen, Gruppengespräche, gemeinsame Mahlzeiten, Akupunktur, Küchenarbeit, Putzen, Fernsehen. Und rauchen, immer wieder rauchen. Die Glimmstängel geben den zitternden Händen Halt und den schmerzenden Lungen etwas zu tun.

Die schwierigste Zeit ist die Nacht. Ständig klappern die Zimmertüren. Durch das Halbdunkel des großen Aufenthaltsraumes schleicht eine Gestalt, Richtung Küche. „Der schmiert sich jetzt ein Nutella-Brot“, sagt Walter. Aus irgendeinem Grund ist die fette Nuss-Nougat-Creme der Tröster, wenn man kein Auge zu tun kann. Mit so einer Ersatzdroge kann der Pfleger leben, alles andere ist tabu. „Disziplin und Nüchternheit, das gehört zusammen.“ Und beides muss sein, wenn man den Weg aus der Sucht finden will. Aus einem der unteren Fabriketagen schluchzt John Denver in den nächtlichen Hinterhof: „Take me home, country roads.“ Das ganze Gebäude, unter dessen Dach Countdown seinen Platz gefunden hat, ist drogenfrei. Die Süchtigen arbeiten sich von ganz oben nach unten. In den tieferliegenden Etagen wohnen diejenigen, die den Entzug erfolgreich hinter sich gebracht haben, aber noch lange nicht über den Berg sind. Erst die anschließende, teils monatelange Therapie in betreuten Wohnprojekten ermöglicht den Ausstieg. Fast dreiviertel aller Patienten, die Countdown im letzten Jahr entgiftete, konnten in solche langfristigen Entzugsprogramme vermittelt werden.

Andreas hat wieder eine Nacht überstanden, seine dritte im Countdown. Es geht ihm besser, denn das Gift ist fast raus aus seinem Körper. Er hat sein Zimmer aufgeräumt, was bei der spartanischen Einrichtung schnell erledigt ist. Ein Schrank, ein Bett, ein Nachttisch, ein Stuhl. Alles in massiver Kiefer, wie man sie überall in sozialen Einrichtungen findet, ob nun Kindertagesstätten, psychotherapeutischen Praxen oder eben Entgiftungsstationen. Für die Aussteiger ist das bedeutungslos. Sie haben oft schon an ganz anderen Orten geschlafen, im Bahnhofsklo, Obdachlosenasyl oder auf einer Parkbank. Da ist man schon dankbar für ein sauberes Bett.

Zehn Tage dauert die Entgiftung. Die Rückfallquote ist hoch, auch wenn keiner genau weiß, wie hoch. „Wir können nicht feststellen, was unsere Klienten machen, wenn wir sie nach der Entgiftung entlassen“, sagt Uta Wege, die Leiterin von Countdown. Aber sie können immer wieder kommen. „Von uns hören sie keine Vorwürfe, wenn es nicht geklappt hat. So etwas dauert eben seine Zeit.“

Andreas ging nach seiner Entlassung nicht in Therapie. Er wollte erst ein bisschen Ruhe. Sechs Wochen später klingelt er wieder an der Tür des Countdown. Seine Urinprobe ist voller Drogen.*n geändert

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