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Berlin: Siegfried Kude (Geb. 1915)

Der Aufbau hört nie auf. Er füllt das Leben und gibt Sinn

Siegfried Kude klopft an der Haustür. Nervös ist er. Auf diesen Moment hat er eine kalte Ewigkeit gewartet. Aber warum macht keiner auf? Er hatte doch geschrieben, dass er aus der Gefangenschaft entlassen wird. Da hört er Schritte. Endlich. Gleich wird er Hanna, seine Frau, wiedersehen.

In einem Café im sächsischen Riesa hat er sie kennengelernt. Sie, Anfang 20, ist hier aufgewachsen. Er, fast 30, lässt sich auf dem Flugplatz als Pilot der Luftwaffe ausbilden. Doch Hannas Mutter will diesen Flieger mit den lässig zur Seite gekämmten aschblonden Haaren nicht im Haus haben: „Er ist zu alt, er ist fremd und bestimmt hat er in Berlin schon eine andere.“

102 Lernflüge muss Siegfried absolvieren, dazwischen bleibt Zeit genug, Hanna und ihre Mutter von sich zu überzeugen. Schließlich kommt er aus einer soliden Schneiderfamilie, ist der Jüngste von sechs Geschwistern, hat einen guten Volksschulabschluss und eine Ausbildung zum Gärtner mit den besten Empfehlungen. Vorzeigbar sieht er auch aus.

Aber kaum geheiratet, muss er Hanna wieder verlassen und sich hinter das Steuerhorn einer „Ju 52“ klemmen. Eine Transportmaschine, mit der er Soldaten und Ausrüstung hin- und herfliegt. 1944 wird er über Rumänien abgeschossen, schafft die Notlandung und flieht. Das Bellen der Hunde verrät ihn, er wird erwischt. Von der Kriegsgefangenschaft im Ural dringen später nur Bruchstücke an die Oberfläche der Erinnerung: wie er morgens die Toten aus der Baracke trägt, wie Nasen schwarz werden und abfrieren, wie 1946 die Nachricht aus Riesa kommt. Hanna lebt und Sigrun, die Tochter, die er noch nie gesehen hat, ist schon zwei Jahre alt. Er fasst Mut, denn Überleben macht wieder Sinn. 1949 wird er aus dem Lager entlassen.

Die Tür geht auf. Ein Mädchen schaut durch den Spalt, sieht Siegfried und erschrickt vor dem spindeldürren Mann. „Bist du Sigrun?“ – „Ja.“ – „Ich bin dein Vati.“ Die Mutter ist zum Bahnhof gelaufen, sie haben sich verpasst. Siegfried rennt los. Trifft Hanna vor dem Stahlwerk. Sie fallen sich in die Arme. Die Arbeiter schauen aus den Fenstern und klatschen.

Im Lager politisch geschult, glaubt Siegfried an den Sozialismus und will helfen, die DDR aufzubauen. Er stürzt sich in die Arbeit und wird schnell Leiter des Mühlenwerks. Die Jahre vergehen, die Tochter wird groß, ein Sohn kommt dazu und noch ein Mädchen. Doch die Euphorie schwindet. Siegfried erkennt die Fehler im System, die Engpässe im Betrieb, und weiß, dass er die DDR verlassen will.

Abends sitzen Siegfried und Hanna zusammen und flüstern, wie sie es machen sollen. Als Familie zu fliehen, wäre zu auffällig. Siegfried will es alleine wagen. Mit dem Zug reist er nach Ost-Berlin und dann in den Westen. In Riesa erzählt Hanna allen, dass ihr Mann sie sitzen gelassen habe. Als Siegfried meldet, dass er Arbeit und Wohnung gefunden hat, reist sie mit der jüngsten Tochter hinterher. Sie lassen alles zurück, Arbeit, Wohnung, Besitz. Auch die beiden älteren Kinder bleiben bei der Oma – eine harte Entscheidung. Ein Neuanfang zu fünft scheint den Eltern zu schwierig. Die Kinder haben es ja gut und könnten jederzeit nachkommen.

Vier Jahre später, August 1961. Siegfried schlägt sich als Bauarbeiter durch. Hanna arbeitet als medizinisch-technische Assistentin. Die beiden Ältesten sind gerade für einen Urlaub in West-Berlin angekommen, als DDR-Soldaten Stacheldraht ausrollen. Die Mauer trennt nun Ost und West. Glück und Zufall haben die Familie zusammengeführt, jetzt für immer.

Der Wunsch, ein Leben aufzubauen, treibt Siegfried weiter an. Inzwischen Lagerleiter dirigiert er die richtigen Materialien auf die richtigen Baustellen: weißer Kittel, drei Telefone, die ständig klingeln, und Arbeiter, denen er im Kommandoton zuruft, was zu tun ist. Am Wochenende baut Siegfried selber, erst seiner Familie ein Haus, später eins für die Tochter, dann ein Ferienhaus in Tirol. Der Aufbau hört nie auf. Er füllt sein Leben, gibt Sinn, so wie die Kinder, so wie Hanna. Wenn er sich mit ihr streitet, nennt sie ihn „Brummochse“. Auf der Straße sieht man die beiden nur Hand in Hand laufen. Er war ihr Siggi, sie sein Hannele. Sie gehören einfach zusammen. 50 Jahre lang.

Als Hanna krank wird, pflegt Siegfried sie. Trägt sie ins Badezimmer und zurück ins Bett. Wenn sie selbst gemachte Marmelade will, kocht er ihr welche, selbstverständlich. Als sie stirbt, weiß Siegfried nicht, was er ohne sie machen soll.

Er wird traurig und muffelig. Aber die Kinder lassen nicht locker und schicken ihn tanzen, in den Urlaub. Es hilft. Er verliebt sich wieder, in Gisela. Drei Tage in der Woche übernachtet er bei ihr, dann kocht sie für ihn. Einzige Bedingung: Er muss sich schick machen, Anzug, Hemd, Krawatte. Sein Leben bekommt neuen Schwung, 18 Jahre lang. Bis erst Gisela stirbt und kurz darauf auch Siegfried. Alleine sein, das war nicht seins.

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