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Berlin: Siegfried Pokern (Geb. 1976)

„Die Zeit läuft mir zum Fenster heraus“

Es ist Weihnachtszeit. Der vierjährige Siegfried bekommt im Krippenspiel des Kindergartens die Rolle des Josef zugewiesen. Ein Weihnachtslied wird gesungen, die erste Strophe, die zweite. Dann eine einzelne Kinderstimme, die auch die dritte Strophe kennt. Die vierte, die fünfte. Ein Josef, der nicht mehr aufhört zu singen.

Ein gelehrsamer Schüler der „Meistersinger“, denen er bereits als Ungeborener gelauscht hat. Bis kurz vor seiner Geburt besuchen die Eltern Wagner-Opern, und als der Junge da ist, benennen sie ihn nach dem Drachentöter.

Bereits mit zweieinhalb Jahren kann er jedes Lied, das er auch nur einmal irgendwo gehört hat, sofort nachsingen, Strophe für Strophe, fehlerfrei. Mit vier Jahren bringt er sich selbst das Lesen und Schreiben bei, mit sechs Jahren spielt er vorzüglich Klavier. Ein Wunderkind?

Solch ein Wort kommt den Eltern nicht in den Sinn. Sie haben bereits zwei große Töchter, sind überzeugt von der Waldorfpädagogik und gegen das leistungsfixierte Denken in der frühkindlichen Erziehung. Zwar freuen sie sich über die Talente ihres Nachzüglers, sprechen jedoch zu anderen kaum davon, um in dem Kind keine Eitelkeit zu schüren und es vor Eifersucht zu schützen.

Doch merken sie, dass sie Siegfrieds Verlangen nach Musik entgegenkommen müssen. Mit sechs Jahren wird er aufgenommen in den „Staats- und Domchor“ der UdK, den er fortan an drei Nachmittagen in der Woche besucht. Einmal will seine Mutter ihm den Chorbesuch verbieten, weil er seine Schulaufgaben noch nicht gemacht hat. Das Kind beginnt zu weinen, am ganzen Leib zu zittern, und empört sich: „Singen ist mein Leben!“ Die Mutter begreift, dass dieser Satz keine pathetische Floskel ist, mit der sie erweicht werden soll, sondern völliger Ernst.

Als Siegfried acht Jahre alt ist, lässt die Lehrerin die Kinder selbst ausgedachte Geschichten schreiben. Siegfried schreibt die Geschichte eines Felsens in sein Heft, die sich im Nachhinein liest wie die Geschichte seines frühen Todes. Überhaupt kann man rückblickend meinen, er habe geahnt, dass seine Lebenszeit knapp bemessen war. „Die Zeit läuft mir zum Fenster heraus“, ein Satz, den er als Dreijähriger sagt. Alles, was ihm wichtig ist, so schnell wie möglich und so gut wie möglich tun, so lebt er.

Mit 19 unternimmt Siegfried zum parallel laufenden Abitur eine Konzertreise nach Taiwan, macht seinen Führerschein, schafft die Aufnahmeprüfung für das Gesangsstudium. Mit 22 gewinnt er den Bundeswettbewerb Gesang, mit 23 debütiert er an der Komischen Oper. Fürs Studium braucht er statt der üblichen zwölf nur zehn Semester und bekommt noch eine Auszeichnung obendrauf.

Auch der Intendant des Staatstheaters Braunschweig ist sehr angetan von diesem Absolventen, er lobt Siegfrieds „schön timbrierte Stimme“ und nimmt ihn auf in sein Ensemble. In zahlreichen Opern- und Operettenrollen ist Siegfried jetzt dauerpräsent auf der Braunschweiger Bühne. Meist ist er besetzt als der treue Freund, die gute Seele, sensibel, komisch, aber nie karikierend.

Seine letzte Rolle ist Graf Boni aus der „Csárdásfürstin“, für den er von Kritik und Publikum gefeiert wird. Als Nächstes soll er den Steuermann aus dem „Fliegenden Holländer“ singen, seine erste Wagner- Oper. Er freut sich darauf. Eines Tages, so hofft er, wird sein Traum in Erfüllung gehen und er darf den David aus den „Meistersingern“ geben.

Doch zwischendrin braucht er eine Pause, frische Luft, Ruhe. Er beschließt, in die Alpen zu fahren, wo die Familie seit seiner frühesten Kindheit Urlaub macht und Siegfried seine Begeisterung für die Berge entdeckt hat.

Fröhlich und gelassen war er in diesen Tagen, erzählt seine Mutter, die dort ein paar Tage mit ihm verbringt. Zwischendrin herrscht heftiges Schneetreiben. Am Abend des 12. März schreibt er Briefe an seine Familie, ruft seine Mutter an, die inzwischen wieder daheim ist, und dankt ihr unvermittelt „für alles“.

Am Morgen des 15. scheint die Sonne. Siegfried, ein erfahrener und leidenschaftlicher Bergsteiger, fährt in das österreichische Örtchen Lähn und stapft los, um vom 2200 Meter hohen Pfuitjöchle zur Hochschrutte zu wandern. Eine leichte Tour für einen wie ihn.

„Es hatte tüchtig geschneit. Über einem schneefreien Felsen lag eine riesengroße Schneemasse. Der Felsen guckte ängstlich zu ihr hinauf. Plötzlich kam großer Wind auf, es stürmte regelrecht. Da hörte er es oben donnern. Er bekam Angst. Was war das, dachte er.“

Als Siegfried beinahe oben angekommen ist, so rekonstruiert man es später, kommt ein unerwarteter Föhn auf. Siegfried tritt auf eine „Wechte“, in der Luft hängenden Schnee, den der Wind gegen den Felsen getrieben hat. Der Föhn und die Bewegung des Schnees lösen weiter weg drei Lawinen aus, die donnernd auf ihn zugerollt kommen.

„Dann wurde es plötzlich schwarz! Er sah nichts mehr. Durch den Sturm hatte sich eine Lawine über ihn geworfen.“

Die Lawinen drücken Siegfried, der mit dem Schnee die Nordwand 400 Meter tief hinunterstürzt, auf eine Felsenstufe. An diesem Abend versuchen sowohl Siegfrieds Mutter als auch seine Frau, mit der er seit fünf Jahren verheiratet ist, vergeblich, ihn zu erreichen.

„Alles war still. Endlich merkte er, dass sich der Schnee über ihm bewegte. Da gab sich der Schnee einen Ruck und rutschte den Felsen hinunter. Er sah: Die Sonne schien, die Blumen blühten, und es war der herrlichste Frühling. Der Felsen war fröhlich wie nie zuvor.“

Damit endet die Geschichte, die er als Achtjähriger schrieb. Es ist ein Frühlingstag kurz nach der Schneeschmelze, 70 Tage nach seinem Sturz, als die österreichische Bergwacht ihn aus einem Helikopter heraus entdeckt. Äußerlich unversehrt und friedlich liegt er da, die Augen geschlossen. Anne Jelena Schulte

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