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Berlin: Sigrid Candler-Oehlschlägel, geb. 1926

Wenn sie auf ihrer Mundharmonika spielte, hielt sie sie nur mit vier Fingern, die anderen spreizte sie elegant weg vom Instrument. Dass hatten ihr schwarze GIs nach dem Krieg beigebracht: Der Klang würde so voller, denn die Schallwellen könnten in alle Richtungen entweichen.

Wenn sie auf ihrer Mundharmonika spielte, hielt sie sie nur mit vier Fingern, die anderen spreizte sie elegant weg vom Instrument. Dass hatten ihr schwarze GIs nach dem Krieg beigebracht: Der Klang würde so voller, denn die Schallwellen könnten in alle Richtungen entweichen. Und der Nagellack der jungen Frau leuchtete.

Die GIs zeigten ihr auch, wie sie sich auf einer Bühne bewegen müsse: Selbstbewusst, kraftvoll. Sie spielte oft in den Amüsier-Clubs der Amerikaner, sie spielte in den "Andrews Barracks" in Lichterfelde, sie spielte in den Gartenlokalen am Wannsee. Sie spielte gut, und sie wurde immer besser.

Es gibt ein Schwarzweißfoto von Sigrid Candler-Oehlschlägel, aus den 50er Jahren, weich gezeichnet im Romantik-Look: Mit verträumtem Blick schaut sie nach rechts unten aus dem Bild, die dunkelblonden Locken eng anliegend, die Augenbrauen akkurat gezupft, die Lippenkonturen exakt gezeichnet. Dunkle Bluse, eine Kette aus dunklen Steinen. Ein Traum.

"Geh doch mal zu Fried Walter", riet ihr ein Bekannter Ende der 50er Jahre, "spiel doch einmal vor!" Und er meldete sie gleich an bei dem Komponisten und RIAS-Dirigenten. Der war zunächst skeptisch - "um Gottes Willen, Mundharmonika!" -, doch sie begeisterte ihn, und er ließ sich hinreißen, ein Stück nur für Sigrid Candler zu komponieren, "Die kleine Trilogie" für Mundharmonika, Harfe, Gitarre und Bass. Sie besteht aus "Promenade", "Begegnung" und "Fröhlichem Heimweg". Fried Walter blieb ihr musikalischer Begleiter auf ihrer Karriere, und Sigrid Candler wurde berühmt. Ihre Mitstreiter hießen fortan Larry Adler, Tommy Reily, Tutz Tiedemann, und alle spielten Mundharmonika.

Sie spielte spanische Melodien, griechische Folklore, deutsche Schlager. Viele ihrer Aufnahmen klingen melancholisch, doch auch flotter Jazz ist dabei. Ihr Lieblingsstück war die Malaguena, ein Foxtrott des Spaniers Ernesto Lecuona. Er beginnt langsam und wird immer schneller: "Wer dich einmal sah, vergisst dich im Leben nie, mit dieser Melodie" - das war der Text zu dem Lied, das sie so gut spielen, aber nicht singen konnte.

Vor Publikum blühte sie auf. Es war in Hamburg, bei einer öffentlichen Aufnahme für den Norddeutschen Rundfunk, da kam sie auf die Bühne, schön zurechtgemacht, aber in einem einfachen Rüschenkleid. Sie lächelte, ging mit stolzen Schritten ans Mikrofon, und das ganze Orchester drehte den Kopf nach ihr: schweigend und mit großen Augen. Sie bekam viele Angebote, von schönen Männern, auch von reichen Männern, und sie hat immer abgelehnt. "Such dir doch mal einen", hatte ihr Fried Walter gesagt, "du könntest fünf Scheichs haben", und doch wurde es nichts damit.

In den 50er und 60er Jahren war sie fast nur unterwegs, machte Tourneen quer durch das Wirtschaftswunder-Land. Meistens reiste Sigrid Candler allein, manchmal war ihre Mutter dabei. Ein Prospekt kündigt sie an als "Europas beste Chromonica-Virtuosin". Gleich nebenan ist ein Foto von Peter Alexander, eines jungen Charmeurs mit Schlips und Kragen. Sie begleitete ihn auf der Tournee "Triumph der Heiterkeit". "Zur Erinnerung an den Triumph der Heiserkeit", hat er ihr auf das Faltblättchen geschrieben.

Sigrid Candler hatte Konzerte in Norwegen, lebte einige Monate lang mit einem Engagement in der Türkei. Sie trat im Pariser "Olymp" auf und im Libanon. Sie spielte mit den Orchestern von SFB und RIAS, mit den Bayreuther Sinfonikern, sie nahm Jazz-Platten auf. Wenn sie zu einem Konzert fuhr, packte sie ihr Köfferchen, etwa so groß wie ein Telefonbuch. Wenn man einen Umschlag aus grobem Leinen abknöpfte, kam es zum Vorschein, aus schwarzem Leder mit metallenen Initialen darauf und einem kleinen Schnappschloss. Innen, mit Samt ausgekleidet, sind zehn Fächer für zehn Mundharmonikas. Das Metall an der Mitte der Mundstücke ist abgenutzt. Sigrid Candler spielte sie alle. In den Fächern liegen Zettelchen: "Wenn ich dich seh, dann fang ich zu träumen an" steht darauf, "Schenk mir doch ein kleines bisschen Liebe" oder "c-5 kommt nicht". "Happy Day", steht auf einem kleinen Zettel, spielte sie nur auf diesem Instrument, weil es darauf am besten klang.

Vor dem Spielen trank Sigrid Candler ein paar Schluck Wasser. Andere Tricks hatte sie nicht. Und doch soll sie die Töne viel sauberer gespielt haben als all die anderen. Sie spielte auf einer Mundharmonika Marke Hohner, das eingravierte Firmenzeichen auf dem Metall. Mit durchschlagenden Zungen: Beim Einatmen gab es einen Ton, und beim Ausatmen auch. Links ein Hebel: Der Kanzellenschieber, er wechselt von C-Dur zu Cis-Dur. Eine Mundharmonika, die so einen Hebel hat, heißt Chromonica.

Sigrid Candler war zurückhaltend: Während andere Stars aus Schlager und Oper - alle gingen ein und aus in Fried Walters Haus - recht intensiv die Abende und die Speisen genossen, zierte sie sich. Sie nahm nicht viel vom Essen, "ach, ich mag wirklich nicht". Sie nahm den Mund nie voll, und bekam deshalb nicht viel vom Kuchen ab, gerade dann, als es eng wurde.

Ende der 60er Jahre wurde das Fernsehen populär. Die Leute schalteten den Flimmerkasten an, anstatt Radio zu hören oder in ein Konzert zu gehen. Die einst florierende Kleinkunst mit ihren Musikern, die von einer Bühne zur nächsten tingelten, wurde zum Synonym für Mittellosigkeit. Es wurde knapp, finanziell. Sigrid Candler wechselte von der Bühne ins Büro. Sie wurde Fremdsprachenkorrespondentin in einer großen Firma, schrieb englische Briefe, französische Briefe und spanische Briefe. Die Mundharmonikas und das Künstlerinnen-Leben fehlten ihr, doch sie ließ es sich nur selten anmerken. Auf dem Firmenparkplatz lernte Sigrid Candler 1972 die Frau kennen, mit der sie bis zu ihrem Tod zusammenlebte.

Eine Mundharmonika holte sie nur noch selten aus dem Koffer, bei Betriebsfeiern oder zu einem Geburtstag höchstens einmal. Sie spielte 1987 auf dem Achtzigsten von Fried Walter im Dahlemer "Alten Krug". Und als sie 1986 im Café Möhring an der Brandenburger Straße ihren eigenen Sechzigsten feierte, kam zufällig Lea Rosh vorbei und gratulierte.

Christian Domnitz

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