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Berlin: Silvester-Umzug: Hiobs Botschaft

Heute Abend im Adlon, gegen 23 Uhr: Hanne Hiob fährt per Fahrstuhl ins Foyer. Die 77 Jahre alte Brecht-Tochter mischt sich unter die Stützen der Gesellschaft, prostet den Zigarre paffenden Magnaten zu und zückt ihr Plakat: "Für die Dummheit".

Heute Abend im Adlon, gegen 23 Uhr: Hanne Hiob fährt per Fahrstuhl ins Foyer. Die 77 Jahre alte Brecht-Tochter mischt sich unter die Stützen der Gesellschaft, prostet den Zigarre paffenden Magnaten zu und zückt ihr Plakat: "Für die Dummheit". Aufgeregtes Gemurmel. Spitze Entsetzensschreie. Dann verlässt sie den Tempel des Kapitalismus und schließt sich ihrem Volke an, den Sängern von Mahagonny, den Aufrechten und Standhaften, die dem neuen Jahrtausend mit polternder Protest-Ironie entgegenrufen: "Für die Größe des Schmutzes! Für die Teuerung! Für die Freiheit der reichen Leute!"

Heinz Klee ist arbeitsloser Werkzeugmacher und Kommunist. Vor 21 Jahren spielte er Bundespräsident Carl Carstens, den "NSDAP-Kassier". Damals tourte der "Anachronistische Zug" noch zu Fuß durch Bonn, ein Jahr später, 1980, dann per Lkw durch die ganze Republik, um Kanzler-Anwärter Franz-Josef Strauß zu stürzen. Klee erinnert sich an den Bauern, der einen Themen-Wagen auf der Landstraße durch Bayern mit Gülle besprengte. Die habe man zur Verschärfung der künstlerischen Wirkung natürlich drangelassen.

Beschimpfungen sind erwünscht, denn der Zug folgt streng dem gleichnamigen Gedicht von Brecht aus dem Jahr 1947. Darin beschreibt er, wie die entnazifizierten Würdenträger aus Politik und Gesellschaft scheinheilig nach "Freiheit und Democracy" verlangen. In Berlin hat man dem Zug noch den Chor aus der Oper "Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny" hinzugefügt, um dem anbrechenden Jahrtausend des Geldes die sozialistische Moral des Gesamtkunstwerkes Brecht entgegenzustellen. Dann könne sich jeder selbst entscheiden, sagt Klee.

Ob die politische Wirkung bei laufendem Böller- und Sektkorkenbeschuss auch wirklich greift, sehen die Veranstalter als kalkulierbares Risiko. Vor einem Jahr auf der Silvester-Performance in München sei die Masse gar nicht so alkoholisiert gewesen wie befürchtet, so Klee. Einige hätten sich sogar spontan dem Chor angeschlossen. Die 15 Lkw mit ästhetisch weit hinter deutschen Karnevalsumzügen zurückfallenden Aufbauten stammen noch aus der Vereinigungs-Deutschland-Tour von 1990. Damals war man zwei Wochen vornehmlich im Osten unterwegs, um den Brüdern vor Augen zu führen, was für eine Freiheit auf sie zukommt. Seit Tagen sind Mechaniker dabei, die klapprigen Unimog- und Barkas-Transporter frostklar zu machen. Da das Geld knapp ist - die ganze Aktion ist mit 20 000 Mark kalkuliert - muss diesmal auf Laien-Darsteller verzichtet werden. Dafür werden 100 Recken aus dem harten Kern der Brecht-Umzügler sowie ein Bremer Theaterensemble den Mahagonny-Chor stellen.

Um 21 Uhr beginnt der Umzug auf dem Alexanderplatz. Wegen der privaten Party am Brandenburger Tor entfällt der geplante Durchzug. Nur die Sängerschar darf sich wegen freundlicher Erlaubnis des Partyveranstalters exklamierend ins Getümmel stürzen: Wer sich dem Chor anschließen möchte, kann dies tun. Heute finden von 15 bis 22 Uhr öffentliche Proben in der Europa-Schule Zehlendorf, Hüttenweg 40 - 42, statt.

Unterstützt werden die anachronistischen Umzügler von Mitgliedern der PDS, der FDJ (die gibt es noch!) und dem "Arbeiterbund für den Wiederaufbau der KPD", in dessen winzigem Büro im Karl-Liebknecht-Haus vis-à-vis der Volksbühne das Organisationskomitee untergekommen ist. Als Nachlassverwalter der DDR sieht sich Klee aber nicht - als im Wortsinn anachronistisch schon gar nicht. Wenn eine NPD am Brandenburger Tor demonstrieren darf und ausländerfreie Zonen möglich sind, sei man heute näher am Neo-Faschismus als 1979. Was Hanne Hiob dazu meint, behält sie für sich. Für Interviews sei sie zu alt, lässt sie ausrichten.

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