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Nachbarschaftsaktion in Friedrichshain: Sing, Balkonien sing!

Volker Siems bringt Friedrichshain zum Trällern. Nachbarn treten heute für Nachbarn auf.

Ein Zaun verbindet Nachbarn, sein Fehlen entzweit sie schnell. Hat Erhard Blanck gesagt. Und vom Schweizer Journalisten Walter Ludin stammt das Bonmot: So viele Menschen, wie es böse Nachbarn gibt, gibt’s gar nicht. Zur Nachbarsfigur kursieren viele Aphorismen, die wenigsten davon sind nett. Was tun, wenn man das ändern will? Volker Siems glaubt, dass Musik die Lösung ist. In Friedrichshain organisiert er heute die Nacht der singenden Balkone. Heißt: Nachbarn trällern für Nachbarn, vom Balkon, aus der Loggia, im Fenster, gratis natürlich, um ihre Stimme zu präsentieren, aber vor allem sich selbst. Drei Touren führen ab 17 Uhr durch den Stadtteil, vorbei an einer Mischung aus Songwritern und Opernsängern, Bands und Big Bands, vorbei auch an Mietern, die lieber tanzen statt zu singen.

„Es geht um eine neue Form der Nachbarschaft, darum, dass ein Miteinander entsteht und die Vereinzelung ersetzt“, sagt Siems. Der 39-Jährige ist Diplomkaufmann und Doktor der Philosophie, vor neun Jahren kam er in die Hauptstadt und hat das Web-Portal Polly & Bob gegründet. Hier sollen sich die Nachbarn vernetzen und helfen, beim Babysitten, Einkaufen, Tragen. „Online verabreden, offline treffen“, sagt Siems und nennt damit auch das Motto für die Nacht der singenden Balkone. 38 Friedrichshainer machen mit. Zu beiden Seiten der Frankfurter Allee finden die Kiezkonzerte statt, bis zum Ostkreuz im Süden und dem Hausburgpark nördlich. In der Marchlewskistraße zum Beispiel, blaue Tour, vertont Tobias Mozart und Liszt, Liedermacher Marco bespielt mit Gitarre die Seumestraße und Ines Thieleis schenkt der Warschauer Straße Operngesang. „Ich wollte meinen Hof schon immer mal zum Klingen bringen“, sagt Thieleis. Sie ist klassisch ausgebildet, trainiert ihre Stimme bis zu zwei Stunden pro Tag, heute will sie ein altelisabethanisches Liebeslied schmachten und danach Modernes. Von den Singing Balconies erfuhr sie zufällig: Thieleis sang am offenen Fenster, plötzlich schallte es aus dem Hof zurück. Eine Frau rief „I wanna sing with you“, kam herüber, klingelte. Es war die Alternativfolkerin Nina Hynes, sie erzählte Thieleis von besagter Nacht.

Die Szene zeigt, dass Siems’ Idee funktioniert, schon vor dem ersten Auftritt. Die Nacht der singenden Balkone verbindet – und befriedigt die Neugierde des Spaziergängers, der sich, ein Haus oder eine Wohnung musternd, fragt, wer dort wohl lebt. Heute kann er erfahren, dass es sich vielleicht um einen Beatboxer handelt oder um einen Kontrabassisten, um einen Geiger oder Rapper. Auch Videokünstler und Vorleser hat der Rundgang im Programm, improvisiertes Theater in der Simplonstraße und ein paar Blöcke weiter Anwohner, die den Passanten mit einer Winde Tee, Glühwein und Kuchen ans Trottoir seilen. „Jeder darf mitmachen, musikalisches Talent war nicht wichtig“, sagt Siems. Er habe vom Imperativ der Coolness wegkommen wollen, also allen Bewerbern zugesagt. Um Licht und Arrangement der Balkone kümmern sich die Auftretenden selbst, eine Show dauert etwa zehn Minuten.

Mit den Spenden, die beim Festival gesammelt werden, will Siems das Klettergerüst auf dem Drachenspielplatz in der Schreinerstraße retten. Das ist momentan abgesperrt, dem Bezirk fehlt das Geld, den baufälligen Drachen zu modernisieren. Der Nachbarschaft sei das wichtig, sagt Siems. Gemeinschaftsgefühl, Solidarität, weniger Anonymität – nach dieser Nacht müssen neue Aphorismen gedichtet werden.

Moritz Herrmann

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