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So tanzen Nichtsänger. Die hundert Chorteilnehmer üben nicht nur Tonfolgen, sondern machen dazu auch Bewegungsspiele.

© Paul Zinken

Singen für Nichtsänger: Pflück’ dir die Töne

Wer keine Stimme hat und trotzdem trällern will, geht zum „Ich-kann-nicht-singen-Chor“ im Radialsystem. Nicht nur Kehlkopf-, sondern voller Körpereinsatz ist gefragt.

Fremde Pobacken berühren sich. Große und kleine, junge und alte, männliche und weibliche. Und die dazugehörigen Münder juchzen bei jedem Kontakt von zwei Körpern fröhlich einen Ton: „Höy!“. Etwa hundert Leute laufen so durch den großen Saal des Radialsystems V in Friedrichshain. In der Mitte steht ein Mann mit ergrautem Pferdeschwanz und dirigiert die anderen: „Das weitergehen nicht vergessen“, sagt er und lacht ins Mikrofon, das er direkt am Kopf trägt. Michael Betzner-Brandt ist Chorleiter. Und die Höy-Sager sind sein Chor – zumindest für diesen Sonntagmorgen, etwa drei Stunden lang.

Notenblätter in den Händen, gerade Rücken, Aufstellung in Reih und Glied – der Sopran nach links, der Alt nach rechts – all das wird man hier nicht finden. Wer hierherkommt, springt nicht ins kalte Wasser, sondern ins Nichtsängerbecken: „Ich-kann-nicht-singen-Chor“ ist der Titel der Veranstaltung des deutschen Chorverbands und des Radialsystems V. Einmal im Monat findet sie sonntags an der Holzmarktstraße 33 statt. Jeder darf kommen.

Hier trifft man Leute wie Christian, 49, der sagt: „Mein Musiklehrer in der Schule meinte, ich solle lieber Steine klopfen statt zu singen und hat mir damit für lange Zeit das Interesse am Musikmachen vergällt.“ Jetzt will er es doch noch mal versuchen. Bei Walter, 50, liegt der Fall anders. Er ist in einem richtigen Chor, möchte aber mal beim Singen „die blöden Noten beiseite lassen“.

Da ist er bei Betzner-Brandt genau richtig: Der studierte Kirchenmusiker, der Chor- und Ensembleleitung in Leipzig und Berlin unterrichtet, Stummfilmpianist und Gründer des Jazz-Pop-Chors der Universität der Künste ist, hat gerade ein Buch veröffentlicht: „Chor kreativ – singen ohne Noten“. Eins stellt Betzner-Brandt gleich zu Anfang der Veranstaltung richtig: „Ich kann nicht singen ist eine Aussage, die so nicht stimmt.“ Bei niemandem. Denn: „Jeder, der sprechen kann, kann auch singen. Singen geht übers Fühlen – es soll sich gut anfühlen im Körper.“

Soa-oa-oa-oa-oa-o. Jeder kann singen, sagt Chorleiter Michael Betzner-Brandt.
Soa-oa-oa-oa-oa-o. Jeder kann singen, sagt Chorleiter Michael Betzner-Brandt.

© Paul Zinken

Der erste Grundsatz seines Konzepts im Radialsystem: „Gemeinsam singen, heißt miteinander kommunizieren.“ Und: „Vielleicht lernen wir uns heute ein bisschen kennen und und werden Freunde.“ Dazu müssen die Nichtsänger nur seinen Anweisungen folgen. Zum Beispiel beim Begrüßungsritual mit verschiedenen Körperteilen, darunter auch mit den Pobacken. Der Erfolg der Übung ist ganz unterschiedlich. Einem etwa zwölfjährigen Mädchen ist die Sache unangenehm. Sie hält sich dicht an die Mutter. Ein Mann Ende dreißig mit zerzaustem Pferdeschwanz macht dagegen besonders enthusiastisch mit. „Behaltet diese Begrüßungsarten ruhig bei“, sagt Betzner grinsend, „die Leute werden sich freuen.“

Dann geht es weiter mit lustigen Bewegungsspielchen, in denen die Nichtsänger immer auch Töne von sich geben. Es ist ein bisschen wie Frühsport oder wie die Sportstunde in der Grundschule, wenn der Musik- den Sportlehrer vertritt. Mit jeder Übung wird die Veranstaltung etwas musikalischer: Lange Töne werden in eine Richtung „geschickt“ und die Sänger gehen ihnen hinterher. Andere Töne werden „gepflückt“ oder vom Boden aufgenommen und „herumgezeigt“. „Nehmt mal eine gut geölte Jalousie in die Hand und zieht sie von oben nach unten“, sagt Betzner Brandt. Und dabei wird natürlich gesungen: Soa-oa-oa-oa-oa-o.

Lutz, 70, ehemaliger Diplomingenieur im Karohemd mit weißem Bart, weiß zunächst nicht recht, welchen Arm er nehmen soll, aber als er sich für den rechten entschieden hat, singt es sich fast von allein – wie bei den meisten Nichtsängern: Angenehm melodisch tönt das Soa-oa-oa-oa-oa-o durch den Raum.

Betzner-Brandt singt jetzt eine etwas schwierigere Tonfolge, die die Nichtsänger nachsingen sollen: „Bumduababydubao. Und dabei immer mit dem rechten Fuß im Rhythmus vor und zurück“. „Bumduababydubao“, singen hundert Stimmen immer wieder. Das sieht fast aus wie ein einstudierter Tanz. Der ganze Raum scheint sich zu bewegen.

Renate, 62, aus Dahlem und Anneliese, 64, aus Schöneberg sind ganz begeistert. Sie sind schon zum dritten Mal dabei: „Hier kommt man aus allen Alltagssorgen raus“, schwärmt Renate. Beim letzten Mal hat sie sich sogar für ein kleines Solo ans Mikrofon getraut.

Radialsystem V, Holzmarktstr. 33, Friedrichshain, So 8.1., 11 Uhr, 10 Euro, Infos: www.radialsystem.de

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