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Berlin: Sönke Reyels (Geb. 1971)

Seine Verträge galten nur für einzelne Legislaturperioden

Endlich ging es wieder aufwärts. Erneut war er im Büro einer Bundestagsabgeordneten der SPD untergekommen. Er hoffte auf eine unbefristete Stelle, die genau zu ihm passte: Vermittlung zwischen Kultur und Politik. Vorbei war die schwierige Zeit seit 2010, als sich keine Tür öffnen ließ – weder im Willy-Brandt-Haus noch bei der Fraktion, auch nicht beim ehemaligen Kulturstaatssekretär, dem er als persönlicher Referent zur Seite gestanden hatte. Als hätte sich etwas gegen ihn verschworen, so waren ihm die letzten Jahre vorgekommen.

Aufgewachsen bei Bremen, war er seit der Jugend Mitglied in der SPD. Als Schulsprecher hatte er seine ersten politischen Erfahrungen gemacht. Zum Abitur goss er sie in eine beherzte Rede und verabschiedete sich anschließend nach Saarbrücken, wo er Politikwissenschaften studierte. Er knüpfte erste politische Kontakte und arbeitete für Herta Däubler- Gmelin. 1999 zog er nach Berlin und beendete dort sein Studium.

Als wissenschaftlicher Mitarbeiter von Abgeordneten lernte er die Stadt von zwei Seiten kennen: Einmal als glitzernde, von Glücksrittern, Lobbyisten und feschen Innovatoren heimgesuchte Metropole. Zum anderen als sozialen Brennpunkt mit nicht enden wollenden Wintern und nur im Sommer herrlich aufblühenden Brachen. Seine Verträge galten nur für einzelne Legislaturperioden. Ging eine Wahl verloren oder hatten seine Chefs einen schlechten Listenplatz, war der Job schnell weg.

Seine Freunde sagen, er sei zu feinsinnig für die spannungsreiche Arbeitswelt gewesen. Er selbst vertraute seinem Optimismus und seinem Netzwerk. Als auch das nichts half, verdingte er sich in einem Callcenter. Immer noch besser, aufgeregte Kunden zu beschwichtigen, als sinnlose Bewerbungen fürs Jobcenter zu schreiben und zu absurden Bewerbungsgesprächen nach Dortmund zu reisen. Er suchte sich einen Tisch am Fenster, blickte auf die Spree und betrieb sein jüngstes Engagement am Wohle der Menschheit mit gleichem Eifer, wie er es zuvor im Politik- und Kulturbetrieb gemacht hatte.

Da hatte er viele Künstler und Politiker, Freunde und Kollegen zusammengebracht. „Kommt Sönke auch?“, hieß es vor den Veranstaltungen des Kulturforums der SPD, bei dem er mitarbeitete. Viele schätzten seine umgängliche und intellektuelle Art, anderen fiel er wegen seines guten Aussehens und des Sinns für Mode auf.

So wichtig es ihm war, ein Kartoffelpüree mit einem ganz bestimmten Stampfer zuzubereiten, so leicht konnte er sich in der Nacht oder in spontanen Abenteuern verlieren. Als er seine Mutter in Bremen einmal besuchte, ging er mit den Worten: „Tschüss, ich mache einen kleinen Ausflug!“ aus dem Haus und kam erst am nächsten Tag zurück. Ähnlich war es an diesem Sommerabend in Berlin: Er lernte ein paar Leute kennen und feierte mit ihnen in einer Wohnung in Friedrichshain. Er tanzte ausgelassen, amüsierte sich, es wurde getrunken. Und irgendwann in den frühen Morgenstunden stürzte er aus unerfindlichen Gründen zu Boden. Dort blieb er bewusstlos liegen.

Möglich, dass ihm eine stabile Seitenlage das Leben gerettet hätte, wer kann das sagen? Der Notarzt versuchte, ihn zu reanimieren, und brachte ihn ins Krankenhaus. Zu spät. Sönke Reyels war während seiner Bewusstlosigkeit erstickt. Stephan Reisner

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