zum Hauptinhalt

Solidarität unterm Zeltdach: Flüchtlinge wollen weiter auf dem Oranienplatz campieren

Die Flüchtlinge auf dem Oranienplatz frieren und wollen doch ausharren. Sie pochen auf bessere Bedingungen in Asylunterkünften.

Es dämmert, die feuchte Kälte kriecht an diesem Novemberabend bis in die Knochen. Am Oranienplatz in Kreuzberg eilen die letzten Feierabendpendler zum Bus, dick eingepackt, auf dem Weg in ein warmes Zuhause. Ein paar Meter entfernt sind zehn weiße Zelte aufgebaut. Seit vier Wochen campieren hier etwa 40 Asylbewerber aus der ganzen Welt, unter ihnen Turgay, 39, Flüchtling aus der Türkei. Er sitzt in einem der Zelte auf einer Matratze, in Decken gehüllt. Bis zu acht Leute passen in ein Zelt, manche haben ein kleines für sich allein. Neben Turgays Matratze steht ein Notstromaggregat, das mit Benzin betrieben wird. „Ich schalte es nur an, wenn ich es gar nicht mehr aushalte“, sagt er. Das Zeltdorf am Oranienplatz ist sein Zuhause auf unbestimmte Zeit.

Turgay hat aushalten gelernt, auch den Schmerz, nach 15 Jahren in einem türkischen Gefängnis und vielen Jahren auf der Flucht in verschiedenen deutschen Asylbewerberunterkünften. „Ich war schon immer ein Revolutionär. Sie haben mich weggesperrt, weil sie die Wahrheit nicht hören wollten.“ Als türkischer Journalist hat er in Zeitungen und Magazinen viel über Frauenrechte und Arbeiterkämpfe geschrieben und zuletzt sechs Bücher veröffentlicht. Jetzt setzt er sich für die Rechte der Asylbewerber ein, gemeinsam mit 40 anderen Männern, Frauen und Kindern aus Afghanistan, Tunesien, Algerien und der Türkei. Dafür sind sie 600 Kilometer in einem Protestmarsch von Würzburg bis nach Berlin gelaufen. „Wir wollen mit diesem Camp zeigen, wie ein unabhängiges gemeinschaftliches Leben funktioniert und wie man zusammen ein Ziel erreichen kann“, sagt er.

Das Ziel lautet: bessere Bedingungen für Asylbewerber und Abschaffung der Residenzpflicht. „Das Essen in den Asylbewerberunterkünften ist sehr schlecht und die Menschen leben wie im Gefängnis. Sie dürfen sich nur in einem Umkreis von 30 Kilometern aufhalten“, sagt Turgay. Er erinnert sich an seine Zeit in einem Wohnheim für Asylbewerber in Bramsche bei Osnabrück. „Ich ging in einer Straße spazieren und als ich an eine Kreuzung kam, musste ich umkehren. Ich durfte nicht mehr in die Nebenstraße abbiegen, weil ich den erlaubten Radius sonst verlassen hätte.“ Die Flüchtlinge würden nicht integriert, sagt Turay. Sie fühlten sich von der Gesellschaft isoliert.

Im Camp ist das anders. In der Küche sitzen die Bewohner in einer Sitzecke aus Sofas und Sesseln und warten auf ihr Abendessen. Manche wollen sich auch nur ein bisschen aufwärmen, bevor sie eine weitere Nacht in kalten Zelten verbringen. Es gibt heißen Tee und Kaffee aus Thermoskannen.

Thaisuppe ohne Kokosmilch.

Aus Töpfen und Pfannen riecht es ein bisschen streng. „Wir kochen international und haben auch immer ein veganes Gericht im Angebot“, sagt Mike, 30, während er Tomaten und Gurken für 40 Leute schnippelt. Es gibt Salat, Nudeln und Suppe. „Eigentlich sollte es Thai-Suppe geben, aber wir haben die Kokosmilch vergessen. Jetzt müssen wir improvisieren.“ Der Immobilienkaufmann hat sich spontan bereit erklärt, in seinem Jahresurlaub zu helfen. „Ich habe das Geschehen in der Presse verfolgt und finde die Diskriminierung der Menschen, die aus ihrem Land flüchten müssen, nicht okay. Man muss sich einsetzen.“

Auch Muriel möchte helfen. Die Bäckereimitarbeiterin aus Kreuzberg bringt zwei Einkaufstüten mit Brezeln. „Sonst verschenke ich sie immer an Freunde aus der WG. Jetzt gehe ich hier jeden Abend nach der Arbeit vorbei. Hier werden sie noch mehr gebraucht.“ Die 22-Jährige arbeitet ehrenamtlich in einem Berliner Asylbewerberheim und bringt den Flüchtlingen Deutsch bei. „Sie haben es wirklich nicht leicht, sich bei uns zu integrieren“, sagt sie. Viele haben mit Heimweh zu kämpfen.

Die Eltern von Turgay sind tot, seine sechs Geschwister leben sehr ärmlich in der Türkei. „Natürlich vermisse ich sie sehr, aber sie zu besuchen, wäre zu gefährlich. Ich habe Angst, dass sie mich wieder einsperren“, sagt Turgay. Er holt einen dicken Ordner aus seinem Rucksack. Darin hat er den Protestmarsch und das Leben im Camp seitenweise dokumentiert. Das Schreiben soll ihn ablenken, vor der Traurigkeit bewahren. „Man muss nach vorn schauen“, sagt er, während er sich auf die Nacht vorbereitet. Seinen Waschbeutel hat er schon parat.

Gleich neben dem Camp hat das Bezirksamt einen Sanitär-Container mit Waschbecken und Toiletten aufgestellt. Duschen können die Flüchtlinge ein paar Straßen weiter in einer sozialen Einrichtung. Die Nächte sind wegen der Kälte sehr kurz. Turgay will sich nicht unterkriegen lassen, auf gar keinen Fall. Er sagt: „Nach der Kälte kommt auch wieder Wärme. Wenn man was erreichen will im Leben, muss man kämpfen.“

Das Camp sucht noch ehrenamtliche Helfer für Küche und Wachdienst. Interessierte können sich am Infopoint des Camps direkt am Oranienplatz melden.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false