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Berlin: Solidarnosc: Diepgens Wunder an der Weichsel

"Na, dann will ich nicht weiter stören", sagt Angela Merkel. Und Tschüss.

Von Ulrich Zawatka-Gerlach

"Na, dann will ich nicht weiter stören", sagt Angela Merkel. Und Tschüss. In aller Herrgottsfrühe am Dienstag, in der noch stillen Ulica Mariacka in Danzig, läuft ihr der Eberhard Diepgen über den Weg. Na, so eine Überraschung! Ein freundlicher Händedruck, und schon ist die CDU-Parteivorsitzende am CDU-Landesvorsitzenden vorbei. Was beide eint, an diesem Tag: Sie sind Gäste der Solidarnosc, die auf der ehemaligen Lenin-Werft den 20. Jahrestag ihrer Zulassung feiert.

Drei Stunden später treffen sie sich auf dem Werftgelände wieder. Noch einmal Guten Tag und guten Weg. Das Gedränge ist groß, man verliert sich rasch aus den Augen. Dann schaut die Frau aus Berlin (Bund) dem Mann aus Berlin (Land) zu, wie er seine Festrede hält. Nach dem Stadtpräsidenten Pawel Adamowicz und nach Solidarnosc-Gründer Lech Walesa hält der Regierende Bürgermeister von Berlin die dritte und letzte Rede. Vor polnischer Prominenz und internationalem Publikum klettert er auf den grünen Kleintransporter mit dem Mikrophon. Sogar der spanische Ministerpräsident Josef Maria Aznar steckt für wenige Minuten das Handy weg, über das er nach dem neuen ETA-Terroranschlag mit seinem Heimatland Verbindung hält. Seine schwarzen Augen fokussieren Diepgen.

Der hat sein Manuskript weggesteckt und redet mit fester Stimme, von einem polnischen Dolmetscher simultan übersetzt, über "das zweite Wunder an der Weichsel" und darüber, dass die Freiheitsbewegung in Polen vor 20 Jahren "ein Ausgangspunkt für den Fall der Mauer in Berlin und für das Ende der Teilung Europas" war. Diepgens Fäuste ballen sich, einmal streben sie sogar gen Himmel. Er redet laut, er redet klar über "diesen bewegenden Augenblick", und "dass wir unsere gemeinsame Zukunft deutlich machen müssen." So schnell wie möglich müsse über die Erweiterung Europas entschieden werden.

Und dann geschieht das dritte Wunder an der Weichsel: Der Redner aus Berlin erntet stürmischen Beifall, mehr als Walesa. Später, als sich hunderte Gäste in der Solidarnosc-Gedenkausstellung drängeln, schüttelt ihm der schlaksige, knapp über 30 Jahre alte Stadtpräsident ebenso stürmisch die Hand. "Thank you very much for the speech." Alle seien begeistert von dieser Rede gewesen. Nachmittags, im historischen Uphagenhaus am Marktplatz, geht Adamovicz noch einen Schritt weiter. "Sie sind der geborene Rhetoriker", lobt er den Gast aus Berlin. Der weiß schon gar nicht mehr, wo er hingucken soll vor lauter Freude über den gelungenen Coup. "Nu hören Sie aber auf", wehrt Diepgen ab. Noch am Vormittag hat er bei seinem Redenschreiber sicherheitshalber sondiert, was denn das erste Wunder von der Weichsel gewesen sei. Es hätte ja jemand fragen können.

Diepgen ist vorsichtig und umsichtig. Fast immer. Gern tütet er kleine Überraschungen, wie die Rede auf der Danziger Werft, von langer Hand vorbereitet und unauffällig ein. Die Ehre, Festredner für Solidarnosc zu sein, hat der Regierende einem Stück echter Berliner Mauer zu verdanken. Das steht seit drei Wochen neben einem ganz anderen Mauerstück, über das Lech Walesa in jenen weltbewegenden Tagen, die nicht nur Polen erschütterten, geklettert sein soll. Etwas schäbig sieht das gute Stück aus Berlin aus. Aber das Werftgelände ist auch nicht richtig schön, und die Berliner Mauer war eben schäbig. Die Polen, die wissen, was Teilung bedeutet, freuten sich über das Geschenk und luden den CDU-Mann nach Danzig ein.

Dass auch Angela Merkel kommt, wusste Diepgen natürlich. Auch wenn das Zusammentreffen in der Altstadt purer Zufall war. Diepgen wusste sogar, dass die Parteifreundin via Kopenhagen an die polnische Ostseeküste flog. Das hatte er zunächst auch erwogen, entschied sich dann aber für den Schlafwagen ab Berlin-Lichtenberg. Am Montag abend, fünf Minuten vor Abfahrt, hetzt Diepgen dem Schlafwagenschaffner entgegen und hofft vergebens auf ein Abendbrot. Es gibt aber keinen Speisewagen. Diepgen stöhnt auf. Einen Tag nach dem Ende seines Sommerurlaubs ist der Regierende noch regelmäßiges Essen gewöhnt. Ein "kleines Abenteuer" nennt er diese Fahrt im ruckelnden, klappernden D-Zugwagen mit den winzigen Abteilen, wo man kaum die Chance hat, aus dem Bett zu fallen. Gern hätte Diepgen noch eine Stippvisite in Königsberg drangehängt. Aber die Mitarbeiter warnten vor der langen Reisezeit.

Also, vielleicht ein anderes Mal, Diepgen stürzt sich hungrig auf ein abgepacktes Biskuit, das eigentlich als Frühstück dienen sollte und lädt zwei mitreisende Journalisten zu einem Plausch auf der Bettkante ein. Ein Viererpack polnisches Bier wird geordert. "Was war los in Berlin?" Er habe im Urlaub nicht jeden Tag Zeitung gelesen. So einen Diepgen findet man nicht oft, mit portugiesischer Sonne im Herzen und die Stirnlocke so blond wie schon lange nicht mehr. Diese Locke - Markenzeichen Diepgen, Typ: Schwiegermutters Liebling - kämmt er sich auch nach über 14 Jahren im Amt stets ordentlich zurecht. In Danzig heimlich in der spiegelnden Schaufensterscheibe.

Und es klappt. Nicht nur Merkel erkennt ihn, auch unter den vielen älteren deutschen Touristen, die sich im Sommer gern Danzig ansehen, ist der Wiedererkennungswert beträchtlich. "Hallo, Herr Diepgen, wir grüßen Berlin." Fotoapparate werden vors Auge gerissen. Lebensgeschichten erzählt. "Tschuldigung, sind Sie der Oberbürgermeister von Berlin?", tönt es aus den Tiefen der Marienkirche. Diepgen bleibt freundlich, auch wenn jemand ungefragt auf ihn einquatscht. Da hilft das eigene Phlegma, die Eitelkeit und die noch gute Laune.

Dann aber taucht er unvermittelt in die Niederungen großstädtischer Probleme ab. Diepgen, mit ganzem Herzen Kommunalpolitiker, freut sich, dass im Gedränge des Langen Marktes mehrere Videokameras auf ihn gerichtet sind. Kollege Adamovicz bestätigt die "Überwachung krimineller Schwerpunkte in Danzig", und der CDU-Mann aus Berlin belehrt ihn, dass die SPD in Berlin so etwas leider nicht zulasse. Rasch lässt er noch die Bernstein-Ausstellung im alten Rathaus über sich ergehen. Ein großes Bausanierungsprojekt interessiert ihn mehr. "Und - ist die Finanzierung gesichert?", fragt Diepgen, doch der Leiter des waghalsigen Unternehmens auf der Danziger Speicherinsel schleicht um den Mann aus dem notleidenden Berlin herum, als hätte er die Taschen voller Geld.

Nur einmal an diesem Tag in Danzig reagiert der Regierende verdutzt, als ihn einer der polnischen Gastgeber fragt: "Weiß man in Berlin, wie viele Bürgermeister es seit Beginn der Stadtgeschichte gab?" Diepgen wackelt indigniert mit dem Kopf. Ja natürlich wisse man das. "Aber ich jetzt nicht. Nein, das kann ich Ihnen jetzt wirklich nicht sagen." Verschränkt die Hände hinter dem Rücken und setzt sich ein paar Meter ab. So eine Frage. Wichtig ist eigentlich doch nur, dass er seit vielen Jahren Eberhard der Einzige ist.

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