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Lichter spiegeln im Wasser der Spree.

© picture-alliance/ dpa

Sommernächte in Berlin: Am Ufer der Sehnsucht

Sommer vorm Balkon war gestern. Wer Berlins legendäre Sommernächte erleben will, muss raus vor die Tür. Zum Tanzen, Abhängen, Philosophieren. Ein Flug durch die Nacht.

Eigentlich wollten wir uns kurz bei den Kollegen vom Deutschen Wetterdienst oben am Platz der Luftbrücke bedanken, die dieser Tage einen richtig guten Job machen. Ihre Prognose, lakonisch: „Viel Sonnenschein mit ein paar Schönwetterwolken. Niederschlagsfrei.“ Und wem es am Tage zu heiß wird, dem sei getrost gesagt: Nachts locken um die 20 Grad. Doch aufgepasst: Das Jahr ist halb vorbei, die Tage werden wieder kürzer! Nutzen wir also die legendären Berliner Nächte.

Wann beginnen hier die Sommerabende? Etwa um halb neun auf der Thielenbrücke zwischen Neukölln und Kreuzberg. Der Horizont über dem Landwehrkanal hebt sich allmählich der Sonne entgegen. Amseln und Spatzen legen sich noch mal richtig ins Zeug, während die Erasmus-Studenten mit Bier und Pizza am Ufer des Kanals lagern. T-Shirt-Wetter. Noch keine Mücken unterwegs.

Die Restaurants überall in der Stadt haben Tische und Stühle auf den Bürgersteig gestellt. Die Spätis behelfen sich mit Plastikstühlen. Ein Biertrinker berät eben seinen Kumpel: „Wenn du stirbst, dann nimm einen weißen Sarg!“ Drüben, unter den Yorck-Brücken, im „Umsteiger“ sitzt eine vierköpfige Männerrunde und analysiert die Probleme Griechenlands. Der Grieche könne einfach nicht mit Geld umgehen. Man habe endlos Schulden gemacht. Da müsse man sich nicht wundern. Einer der vier Wirtschaftsweisen hebt sein Glas und sagt lakonisch: „Spree-Athen“.

In der Crellestraße singt ein Kirchenchor Gospels unter freiem Himmel

Auf dem Kreuzberg wird nachts noch getrommelt. Der Mond ist voll, wer kann da schlafen? In der Crellestraße hat ein Kirchenchor das stickige Gemeindehaus verlassen und singt seine Gospels unter freiem Himmel. Die Hundehalter stehen mit offenem Mund. Wo gibt's denn so was? In Berlin.

Im Tiergarten hat König Friedrich II. sich einst einen Platz nach allen Regeln der französischen Gartenkunst schaffen lassen: mit Hecken, Alleen und Statuen antiker Götter. Diese Standbilder nannten die Berliner despektierlich „die Puppen“ und den Großen Stern, wo heute die Siegessäule steht, den „Puppenplatz“. Damals lag er recht weit vor den Toren der Stadt, es dauerte seine Zeit, „in die Puppen“ zu gehen. Die Ausflugslokale des Tiergartens waren legendär für ihre langen Sommernächte. Die Statuen selbst haben die groben Liebkosungen der feiersüchtigen Berliner nicht lang ausgehalten, sie waren bald bis zur Unkenntlichkeit verstümmelt. Ihre kläglichen Reste wurden 1829 entfernt. Doch die Berliner feiern weiter bis in die Puppen.

Auf der Straße des 17. Juni besichtigt eine Gruppe englischer Jugendlicher das Sowjetische Ehrenmal, einer pfeift die russische Nationalhymne. Auf dem Parkplatz, unter dem der „Führerbunker“ liegt, waren sie auch schon. Jetzt aber ziehen sie zum Brandenburger Tor, wo die Stimmung entspannt und vergnügt ist. Daneben klappern die Gerüstbauer mit Stangen und Planen. Bauen Sie auf oder ab? „Nix verstehen!“ Der Securitymann weiß mehr: „Fashion Week.“ Dann ist die Straße also weiterhin gesperrt? Er wendet die Handflächen nach oben: „Wir stecken da auch nicht drin!“

Drüben am Gendarmenmarkt stehen die Tribünen bereit für das Classic Open Air: Es beginnt mit Highlights aus Klassik und Film, und am Sonntag wird hier die Sommernacht französisch mit Ute Lemper. Weltstadtniveau. Die Securityfrau passt auf, dass hier nachts niemand über den Platz läuft: „Ich kann in diesen Sommernächten sowieso nicht schlafen. Außerdem ist Vollmond.“ Sie wohnt oben am Olympiastadion, da sind nachts die Nachtigallen so laut, dass sie insgeheim denkt: Könnt ihr nicht mal den Schnabel halten?

Manchen kann es nicht laut genug sein. Die stehen allnächtlich vor dem Berghain an und hoffen auf eine gnädige Türpolitik. Wenn die härteste Tür Berlins für die glücklichen zehn Leute geöffnet wird, die reindürfen, hämmert für einen kurzen Moment ein hypnotisches Drumming auf den Vorplatz. Das Haus schwitzt Musik aus. Die Nacht hat eben erst begonnen. Freundlicher Hinweis für Anfänger: Sonntag um 14 Uhr sollte man problemlos reinkommen. „Aber Vorsicht: teilweise krankes Publikum.“

So auch auf der Warschauer Brücke, wo sich das Feiervolk trifft und verteilt in die Friedrichshainer Straßen oder hinüberwandert auf die Kreuzberger Seite. Wer legt nächstens im Watergate auf? „Sowohl Ruede Hagelstein als auch Baikal können grandios sein!“, sagt ein Kenner. Und schickt uns für den heutigen Sonnabendabend in den Club der Visionäre auf die schwappenden Wasser des Flutgrabens. „Daniele Papini soll von Zeit zu Zeit nicht der Schlechteste sein.“

Morgens um sieben Uhr im hellen Sonnenschein sind die Verheerungen der Nacht allerdings kaum zu kaschieren. Da hilft nur: Weitertanzen.

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