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SONNTAGS um zehn: Auf den Leib geschneidert

Die Versöhnungsgemeinde an der Bernauer Straße hat einen neuen Pfarrer – einen Bürgerrechtler.

„Ja, mit Gottes Hilfe“. Thomas Jeutner steht vor dem Altar der Versöhnungskapelle auf dem ehemaligen Grenzstreifen an der Bernauer Straße. Die Sonne scheint durch das Oberlicht in das ganz aus Lehm gebaute Gotteshaus hinein, ihre Strahlen brechen sich an Jeutners Kopf. Gerade hat der Superintendent des Kirchenkreises Berlin-Nordost, Martin Kirchner, den hageren, grauhaarigen Pfarrer gefragt, ob er bereit sei, den Dienst des Pfarrers in der Versöhnungskirchengemeinde zu übernehmen. Und Thomas Jeutner ist bereit.

So sehr ist er bereit, dass er, der bis dahin in einer Kirchengemeinde in Hamburg tätig war, gleich nach der Ausschreibung der Pfarrstelle in der Gemeinde anrief, um sich auf die Stelle zu bewerben, die nach der Pensionierung des langjährigen Gemeindepfarrers Manfred Fischer frei wurde. Denn Jeutner und seine Frau Marianne Subklew-Jeutner, die heute Stellvertreterin von Ulrike Poppe ist, der Beauftragten des Landes Brandenburg für die Aufarbeitung der Folgen der kommunistischen Diktatur, kommen aus der Bürgerrechtsbewegung der ehemaligen DDR. Ganz in der Nähe, in der Oderberger Straße, erlebten sie den Fall der Mauer. Die Pfarrstelle in der für ihre Mauertotenandachten und ihre Versöhnungsarbeit bekannten Gemeinde auf dem Grenzstreifen wirkt da Thomas Jeutner wie auf den Leib geschneidert.

„Aber allein Gott hat Dich berufen“, sagte Superintendent Kirchner, als er zusammen mit den Pfarrern Torsten Amling und Ruth Misselwitz und den Mitgliedern des Gemeindekirchenrats den neuen Pfarrer mit Bibelversen und Segensworten in sein Amt einführte. Kein Urteil soll sich der neue Pfarrer über die Menschen bilden, sondern nach ihrem „Ur-Teil“ fragen – den Fähigkeiten, die Gott einem jeden von ihnen mit auf den Weg gegeben hat.

Dann aber hat Jeutner seinen großen Auftritt. Im schwarzen Talar mit roter Stola steht er hinter dem Altar der Kapelle und beginnt mit seiner ersten Predigt – über Jesus, der im Haus eines Pharisäers zu Gast ist, und dort von einer Frau aufgesucht wird, die weint. Die Tränen vergießt, wie das Ehepaar aus Frankreich, das auf dem Todesstreifen nach den Gräbern deutscher Vorfahren suchte. „Wir konnten den Ort relativ genau bestimmen, wo die Gräber waren“, sagt Jeutner. „Wir sind zusammen hingegangen, haben der Toten gedacht, einen Psalm gelesen und das Vaterunser gebetet.“ Und dann spielte Jeutner „Lobe den Herrn“ auf der Mundharmonika. Da flossen Tränen bei den Franzosen und dem Pfarrer gleichermaßen.

Und auch die Kapelle auf dem Grenzstreifen kenne die Tränen: Die Tränen der Maueropfer ebenso wie die der Menschen, die die Teilung zwischen Ost und West ertragen mussten. „Der Ruf des Herrn ist es, der den Strom der Seele entfesselt“, sagt Jeutner. „Der Ruf des Herrn lässt Menschen ein Risiko eingehen.“ Auch die weinende Frau aus der Geschichte mit Jesus habe diesen Ruf gespürt. Doch der Weg, den die Menschen zum Frieden gehen müssen, sei oft lang – in der Versöhnungsgemeinde aber wolle man ihn weitergehen, mit Gottes Hilfe.

Benjamin Lassiwe

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