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Berlin: Sonntags um zehn: Die Hütte Gottes in der Karl-Marx-Straße

Trotz eisiger Kälte drängt man sich am Sonntag am S-Bahnhof Neukölln um Ramschstände à la Polenmarkt Ende der 80er Jahre. Ein Bärtiger mit Fellmütze hält unter der S-Bahnbrücke einen abgewetzten Ledermantel feil.

Trotz eisiger Kälte drängt man sich am Sonntag am S-Bahnhof Neukölln um Ramschstände à la Polenmarkt Ende der 80er Jahre. Ein Bärtiger mit Fellmütze hält unter der S-Bahnbrücke einen abgewetzten Ledermantel feil. Einem Mann in schmutzigen Hosen und mit einer Tüte in der Hand begegnet man wenig später in der "Hütte Gottes bei den Menschen" wieder. So nennt eine Inschrift die Evangelische Magdalenen-Kirche an der Karl-Marx-Straße 197. Als "Kirche an der Straße", die damals noch Bergstraße und nicht nach dem Philosophen hieß, wurde sie 1879 erbaut, um der schnell wachsenden Rixdorfer Gemeinde Halt mit der frohen Botschaft zu vermitteln. In dem Kiez, in dem heutzutage Geschäfte "Knüller Kiste" oder Expo-Shop heißen, wollen das einen Tag vor Heiligabend gestern nur wenige Neuköllner. Im Kirchenschiff, über dem ein Herrnhuter Stern tröstlich leuchtet, fällt nicht nur der Mann mit den schmutzigen Hosen auf, auch eine Frau mit zwei verschiedenen Schuhen an den Füßen; ihr Hab und Gut hat sie in einem alten Kinderwagen neben sich. Vorn am Altar brennen vier dicke rote Adventskerzen, eine Weihnachtstanne ist mit roten Schleifen geschmückt, und in der Krippe unter der Kanzel schlummert schon das Christkind in der Wiege. Um Mut zur Freude betet die kleine Gemeinde gestern mit, mitsingen hört man niemand. Der arbeitslose Nachrichtentechniker Michael Dufft, die Tagesmutter Barbara Völcker und der pensionierte Bezirksschornsteinfeger Dieter Schukat bilden allein den dünnen Jubelchor. Die drei gehören zu 30 so genannten Lektoren, die in Neukölln ehrenamtlich Gott dienen - und damit die zu wenigen Pfarrer im Bezirk entlasten, deren einer vor Weihnachten auch noch stürzte und im Krankenhaus liegt. Herkömmlich pathetisch fromme Worte sind in der "Kirche an der Straße" wohl auch fehl am Platz, so gesehen macht Michael Dufft seine Sache gut. Von Königen und Prinzen, die als Herrscher und Vorbild nicht mehr dienen, sondern nur als mediengeschürte Objekte voyeuristisch privater Neugier, spricht der junge Mann und leitet geschickt von der Sehnsucht, "denen da oben" einmal ganz nah zu sein, um etwas von dem Glanz abzubekommen, zu der sich Heiligabend erfüllenden Sehnsucht der Christen hin. Kommt doch nicht irgendein Promi an, sondern ein König - Gott selbst. Das ist die Freudenbotschaft, ist die Nachricht, die Hoffnung macht. Hoffnung auf bessere Zeiten, darauf, dass der Glanz dieses Königs die inneren und äußeren Trümmer des eigenen Lebens erstrahlen lässt. Die Christenheit steht im Advent - das heißt im Warten auf das Kommen des Königs, sagt Michael Dufft. "Selbst die Trümmer sollen fröhlich sein", steht bei Jesaia geschrieben. Gestern strahlte schon mal die Sonne fröhlich durch die Mosaikfenster der "Hütte Gottes bei den Menschen" - in Neukölln.

hema

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