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SONNTAGS um zehn: Gottes erste Liebe

Israelsonntag in der Kirche St. Marien in Mitte

Bei den Christen sitzen die Juden in der ersten Reihe. Jedenfalls am Israelsonntag in der Marienkirche nahe dem Alexanderplatz. Ganz vorne links sitzen an diesem Vormittag die Ehrengäste: Benno Bleiberg, der stellvertretende Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde zu Berlin, und seine Ehefrau. Eigentlich wollte die Vorsitzende Lala Süsskind ein Grußwort sprechen, sie fiel aber kurzfristig aus.

Der Israelsonntag wird seit dem frühen Mittelalter immer am 10. Sonntag nach Trinitatis gefeiert und ist dem Gedenken an das Volk Israel und der Zerstörung des Jerusalemer Tempels gewidmet. Durch die Jahrhunderte oft auch mit antijüdischem Anstrich. Nach dem Holocaust übte die evangelische Kirche Selbstkritik und machte daraus einen Tag der Selbstreflexion und neuer christlich-jüdischer Geschwisterlichkeit.

Deren Zeichen sind in der sonnendurchfluteten Marienkirche schön anzuhören: Im Altarraum sitzt ein einsamer Cellist und spielt aus dem „Zyklus jüdischen Lebens“ des Komponisten Ernest Bloch. Und von der Empore schmettert der Schalom-Chor hebräische Hymnen.

Die Stimmung hat nichts von einer Pflichtübung, wie man sie an Gedenktagen häufig erlebt. Nachdenklich, ein bisschen melancholisch, aber vor allem herzlich geht es zu. So wie der alte Mann in kurzen Hosen, der, nachdem Pfarrer Johannes Krug die Gäste vorne begrüßt hat, rüberstapft und Benno Bleiberg erst mal die Hand schüttelt. Liturg Krug und Prediger Norbert Dennerlein, der in der evangelischen Kirche Deutschlands für Kirche und Judentum zuständig ist, wenden sich den „älteren Geschwistern“ in einer warmen Umarmung zu.

Der Apostel Paulus sei der entscheidende Impulsgeber des erneuerten Verhältnisses zwischen Juden und Christen, sagt Pfarrer Dennerlein. Paulus widerspräche im Brief an die Römer heftig der Ansicht mancher Glaubensbrüder, dass die Christen die Juden als Gottes erste Liebe abgelöst hätten. „Gottes Treue ist verlässlich.“ Dem Volk Israel, den Christen und jedem Einzelnen gegenüber. Nach 2000 Jahren, in denen Christen im Umgang mit Juden viel Schuld auf sich geladen hätten, empfindet Dennerlein deren Mitwirkung am Gottesdienst zum Israelsonntag als „ein kostbares Geschenk“.

Nur das kuschelige Miteinander allein reicht Benno Bleiberg von der Jüdischen Gemeinde offenbar nicht. Sein streng präsidiales Grußwort ist vor allem eine Forderung nach mehr christlicher Unterstützung für den Staat Israel. Gunda Bartels

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