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SONNTAGS um zehn: Jesus reitet durchs Brandenburger Tor

In der Friedenskirche Charlottenburg wurde ein Wandbild eingeweiht.

Das Brandenburger Tor beginnt zu wackeln, und selbst die Quadriga fällt zu Boden. Der nur schemenhaft erkennbare, ganz in rot gemalte Jesus Christus reitet auf einem gelben Esel in die Stadt Berlin. Zu sehen ist diese Szene seit gestern auf einem rund 80 Quadratmeter großen, expressionistischen Wandbild in der Apsis der baptistischen Friedenskirche an der Charlottenburger Bismarckstraße. Gemalt hat es Helmut Kissel, der 80-jährige Vater des örtlichen Pastors Hendrik Kissel. Der an der Münchener Kunstakademie ausgebildete Maler war selbst viele Jahre Pastor in verschiedenen Baptistengemeinden, und als die Charlottenburger Christen im Gottesdienst am Sonntag nach mehreren Wochen mit einem Baugerüst im Altarraum zum ersten Mal den freien Blick auf das Wandbild hatten, ließ er es sich nicht nehmen, zur Feier des Tages auch zu predigen.

Und die Menschen in der Friedenskirche hörten ein Plädoyer für Frieden und Gewaltfreiheit: „Viele sind in der Geschichte durch das Brandenburger Tor geritten: Kaiser, Könige und Kriegsherren“, sagte Helmut Kissel. „Aber den Frieden hatten sie meist nicht im Sinn.“ Anders sei es damals in Jerusalem gewesen: „Auf einem Esel, dem Lasttier der Armen, ritt Jesus in die Stadt“, sagt Kissel. „Und die Menschen dort waren fast schon entsetzt, wie er da kam, als Armer, und auf jede Gewalt verzichtet hat.“ In seinem Gemälde will der Maler Denkanstöße geben: „Nicht irgendein Kriegsherr, sondern Jesus Christus gibt die Antwort auf alle Fragen“, sagt Kissel. „Er ruft zur Gewaltlosigkeit und zum Frieden auf.“ Auch in Berlin habe man damit Erfahrungen gemacht, sagt der Maler. Denn in den 1980er Jahren hätten viele Christen, und auch Kissel selbst dafür gebetet, dass Gott die Berliner Mauer einreiße. „Und 1989 fiel die Mauer, ohne Blutvergießen.“ Die Gethsemanekirche und bröckelnde Mauersteine auf dem Wandbild sollen daran erinnern.

Damit die Gemeindemitglieder das Bild auch genau in Augenschein nehmen konnten, gab es mitten im Gottesdienst eine Kaffeepause. In kleinen Gruppen standen die Menschen im Saal, tauschten Neuigkeiten aus und diskutierten über das Gemälde. Viele waren begeistert, anderen, wie der 87-jährigen Ingeborg Zehner, war das Bild „ein bisschen zu modern.“ Und der Musikproduzent Horst Brauner bezeichnete es sogar als „Provokation“, Jesus Christus umgeben von Berliner Motiven darzustellen. Doch als Günter Spielmann aus der Gemeindeleitung Helmut Kissel vor den Altar rief, um ihm einen „guten Tropfen aus der Pfalz“ zu überreichen, und sein Sohn ankündigte, die Sonntagskollekte sei für den ansonsten unentgeltlich arbeitenden Maler bestimmt, gab es in der Gemeinde jede Menge dankbaren Applaus. Denn die große Mehrheit der Charlottenburger Gemeinde freute sich sichtlich über ihr neues, die Kirche schmückendes Gemälde. Benjamin Lassiwe

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