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Gut gefächelt. Das heilige Buch der Sikh liegt während des Gottesdienstes im Reinickendorfer Tempel auf einem Bett. Ein Gemeindemitglied fächelt ihm Luft zu. Foto: Davids/Darmer

© DAVIDS

SONNTAGS um zwölf: Essen und beten

Zum Gottesdienst im Sikh-Tempel kochen die Männer.

Bei den Sikh kochen sonntags die Männer. Seit acht Uhr stehen sie in der Küche im Untergeschoss des Tempels in der Reinickendorfer Kögelstraße und schnippeln Karotten, häckseln Kräuter und rühren in riesigen Töpfen. Bis um zwölf Uhr der Gottesdienst beginnt, muss Essen für 150 bis 200 Gemeindemitglieder fertig sein. Denn die gemeinsame Mahlzeit ist fester Bestandteil der Zeremonie. Als Guru Nanak im 16. Jahrhundert in Indien seine Schüler („Sikh“) um sich scharte, war es gesellschaftlich unvorstellbar, dass Menschen unterschiedlicher Kasten gemeinsam essen. Er änderte das. Als Zeichen, dass bei den Sikh jeder Mensch die gleiche Würde hat, heißen bis heute alle Männer mit Nachnamen Sing (wörtlich: Löwe) und alle Frauen Kaur (Prinzessin).

Nach zwölf Uhr versammeln sich immer mehr Männer, Frauen und Kinder auf den Teppichen vor dem Altar im oberen Stockwerk – Männer links, Frauen und Kinder rechts. Auf dem zweistufigen Altar, bekrönt von einem Baldachin, liegt das heilige Buch der Sikh aus, der „Granth“. Seit dem Tod des letzten Gurus 1708 lehren die 1430 Seiten die alleinige Wahrheit und werden wie ein lebendiger Guru behandelt. Zum Schlafen bettet man den „Granth“ in ein Bett. Und während des Gottesdienstes fächelt ihm ein Gemeindemitglied mit einem Wedel Luft zu.

„Gott segne mich mit Deiner Gnade“, singt jetzt eine junge Frau in Panjabi, begleitet von zwei Harmonien und einer Handtrommel. Wegen der vielen Halbtöne ähnelt ihr Gesang dem muslimischer Muezzine. Weit entfernt vom Islam sind die Sikh ja nicht. Religionsgründer Guru Nanak wollte eine Verbindung aus Islam und Hinduismus schaffen. So glauben die Sikh wie die Muslime nur an einen Gott, und wie die Hindus an die Wiedergeburt. Der Guru hoffte, so die Feindschaft zwischen den beiden Religionen aufzuheben, wurde aber dann von beiden verfolgt. „Es ist ein großes Verlangen in mir nach Gott, gib mir einen Rat, mein Freund, wie ich zu meinem Guru finde…“, singt die junge Frau.

Guru Nanak wollte wehrhafte Schüler und machte das Tragen eines Dolches zur religiösen Pflicht. Hier in Reinickendorf blitzt nur bei einigen älteren Männern gekrümmtes Silber unter der Tunika hervor. Mit dem Dolch sei das ja auch nicht so einfach, sagt Amarjeet Singh. Beim Sicherheitscheck im Flughafen muss man ihn abgeben, auf der Straße werde man komisch angeschaut. Aber auch an das Verbot, die Haare zu schneiden und einen Turban zu tragen, halten sich die jungen Männer nicht mehr so richtig. Die meisten binden sich nur noch für den Gottesdienst ein Kopftuch um. „Die Jugend“, sagt Amarjeet Singh und winkt ab. Man übe keinen Zwang aus. „Vielleicht bedeutet ihnen die Religion mehr, wenn sie älter werden.“ Einige lassen den Turban womöglich auch ab, um nicht mit Taliban verwechselt zu werden. Anfang August schoss ein Islamhasser in einem Sikh-Tempel in Wisconsin um sich, weil er dachte, es sei eine Moschee.

Der Prediger legt jetzt die zuvor gesungenen Hymnen aus, es geht um das Verlangen nach Gott. Später wird aus dem Heiligen Buch gelesen und gebetet. Und zwischendurch immer wieder gegessen. Solcherart moralisch und kulinarisch gestärkt kann die neue Woche beginnen. Claudia Keller

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