zum Hauptinhalt

Sozialstaat: Immer mehr Beschäftigte brauchen Geld vom Staat

Nicht nur viele Reinigungskräfte und Friseure gehen nebenher zum Job-Center. Im letzten Jahr zahlte das Land eine knappe Milliarde dazu – Tendenz steigend.

Die Zahl der Berliner, die neben ihrem Job auf staatliche Hilfe angewiesen sind, wächst dramatisch. Knapp 119 000 Menschen sind es heute, 20 000 mehr als vor zwei Jahren. Nach Angaben von Sozialpolitikern ist Berlin Hochburg des „Lohndumpings“. Betroffen sind längst nicht mehr nur die Branchen mit traditionell niedrigen Löhnen wie das Reinigungsgewerbe oder der Wachschutz, sondern auch Rechtsanwälte und Webdesigner, Journalisten und Werber.

Die vielen schlecht bezahlten Jobs in der „Kreativbranche“ sind laut Karl Brenke vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung ein Grund dafür, dass das Durchschnittseinkommen in der Stadt zu den niedrigsten bundesweit zählt – „und sogar geringer ist als im ostdeutschen Durchschnitt“.

Die wirtschaftliche Not der Berliner belastet wiederum den Haushalt des Landes. Denn wer von seiner Arbeit nicht leben kann, bekommt in der Regel einen Zuschuss für die „Kosten der Unterkunft“ – und dieses Geld kommt überwiegend aus dem Landeshaushalt: Die Belastung stieg von 971 Millionen Euro im Jahr 2006 auf 996 Millionen Euro im vergangenen Jahr – Tendenz steigend.

Schuld an dieser Entwicklung ist der Wandel am Arbeitsmarkt. Wo es früher klare Grenzen zwischen Beschäftigung und Erwerbslosigkeit gab, ist heute der Wandel zwischen prekären, meist zeitlich befristenen Anstellungen das einzig Stetige: Mini- und Midijobs, staatlich geförderte Beschäftigung oder Vollzeitstellen zu Dumpinglöhnen wechseln sich in den Patchwork-Biografien der Niedrigstlöhner ab. Und immer häufiger muss der Staat beim Übergang oder bei der Überwindung von Durststrecken helfen.

Auf diesem Umweg wird flächendeckend eine Art „Kombilohn“ eingeführt, von dem vor allem Arbeitgeber profitieren. „Denn solange es keine Mindestlöhne gibt, muss der Staat die geringen Einkünfte aufstocken“, sagt Ramona Pop, Fraktionsvorsitzende der Grünen. Dass Berlin Vorreiter bei dieser Entwicklung ist, führt die Sozialpolitikerin auf eine fehlgeschlagene Wirtschaftspolitik zurück. „Da wird die Ansiedlung von Callcentern gefördert, die ihren Mitarbeitern nicht mal Mindestlohn bezahlen.“

Wirtschaftssenator Harald Wolf (Linke) sagt: Nicht die Berliner Wirtschaftspolitik, sondern „die letzte Bundesregierung“ sei schuld. Sie habe Leiharbeit und Regelungen zu Minijobs ausgeweitet und so „einen Druck auf das Lohnniveau nach unten sowie nichtexistenzsichernde Löhne staatlich sanktioniert“.

Der wirtschaftliche Druck auf Unternehmer und Arbeitnehmer treibt immer mehr Erwerbstätige in eine prekäre Selbstständigkeit. Und nach aktuellen Zahlen der Bundesagentur für Arbeit sind heute doppelt so viele Beschäftigte wie vor zwei Jahren auf staatliche Zuschüsse angewiesen. Viele landen in der Beratung von Markus Wahle bei der IG Bau. Er sagt, darunter seien Webdesigner ebenso wie Malermeister. Wahle spricht von einer „Strukturveränderung“ zum Beispiel in der Baubranche, die zunehmend Kleinst- oder Einmannbetriebe hervorbringe. „Die Perspektivlosigkeit nach fehlgeschlagenen Bewerbungen treibt sie in die Selbstständigkeit“, sagt er – und wenn die Aufträge ausbleiben an die Kassen der Jobcenter.

Von „haarsträubenden Arbeitsentgelten“ im Friseur-Gewerbe spricht Frank Steger, Vorstand beim Berliner Arbeitslosencenter der evangelischen Kirche. Und weil immer mehr Branchen ohne Tarifverträge auskommen, ist die Grenze nach unten bei den Stundenlöhnen offen. „Sittenwidrig“ und damit strafbar werden Arbeitgeber allenfalls dann, wenn sie 30 Prozent unter dem Tarif- oder dem ortsüblichen Gehalt bezahlen.

Steger berichtet über Mitarbeiter von Wachdiensten, die am morgen für Ordnung bei einem Jobcenter sorgten und sich am Nachmittag in die Schlange eines anderen Jobcenters einreihten, weil sie mit ihrem Stundenlohn von gut 5,25 Euro ihre Familie nicht ernähren können.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false