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Ich hör mal zu. Lisa Paus (Bündnis 90/Die Grünen) erkundigt sich an der Basis.

© Vincent Schlenner

Speed-Dating im Obdachlosenheim: Politiker beim Wählercheck mit Wohnungslosen

Von großen europäischen und kleinen persönlichen Krisen: Politiker aller Parteien werben in Einrichtungen für Wohnungslose um Wählerstimmen. Dabei bekommen sie einiges zu hören – auch am heutigen Donnerstag wieder.

Am Tisch neben dem Fenster doziert der alte Mann mit dem roten Gesicht unter schlohweißem Haar über Kapitalflucht und unsinnige Milliardenverschwendung in Euro-Ländern. „So kann doch kein Staat überleben!“, ruft er voll Temperament, und die Gummibärchen in den Süßigkeitenschüsseln erzittern. CDU-Frau Dagmar König argumentiert ruhig gegen seine Verbesserungsvorschläge. „Wir können anderen Staaten nicht reinreden. Die müssen schon selber entscheiden.“

Die Frage, wer wem helfen könnte, ist an diesem Augustnachmittag im Charlottenburger Seelingtreff relativ leicht zu beantworten. Hierher kommen normalerweise Menschen, die Hilfe brauchen, weil sie ihre Wohnung verloren haben oder weil sie in Armut leben und froh sind über eine Gratismahlzeit und ein bisschen Gesellschaft. Klar, dass solche Menschen nicht gerne öffentlich ihren Namen preisgeben. Heute haben sie Besuch bekommen von Politikern. Es ist Wahlkampf, und jede Stimme zählt. Auch Obdachlose können wählen, wenn sie in Berlin gemeldet sind. Sie können aber auch schriftlich den Eintrag in ein Wählerverzeichnis beantragen, der Stichtag ist der 1. September, im Internet wird unter www.berber-info.de alles erklärt.

Alle 12 Minuten klingelt es: Tisch wechseln!

„Wir kommen wählen“, ist der Titel dieser Kampagne der Landesarmutskonferenz Berlin. Dabei wird die Bundestagswahl zum Anlass genommen, Begegnungen zwischen Politikern und Menschen, die von Armut betroffen sind, zu fördern. Einerseits sollen arme Menschen ermutigt werden, aktiv für ihre Interessen einzutreten, andererseits soll das Thema Armutsbekämpfung mehr Gewicht in der politischen Auseinandersetzung gewinnen. Am heutigen Donnerstag findet eine solche Begegnung im Kieztreff Marzahn-Mitte statt. Im Seelingtreff klingelt an diesem Donnerstag alle zwölf Minuten eine Glocke, dann müssen die Politiker den Tisch wechseln.

Die üblichen Besucher des Seelingtreffs können sitzen bleiben und mit dem nächsten Politiker reden – so ähnlich wie beim Speed-Dating. Da ist die ältere Frau, die allen ihre eigene traurige Geschichte erzählt. Sie leidet an einer Stoffwechselerkrankung im Gehirn, die nicht richtig behandelt und deshalb chronisch wurde. Nun hat sie wohl erhebliche Probleme mit ihrem Betreuer. „Kann man den Krankheitsverlauf verlangsamen?“, fragt die Grüne Lisa Paus. Könnte man wohl, aber: „Sie wissen ja, wie das läuft im Gesundheitssystem, wenn man arm ist.“ Der 73-jährige Rentner redet inzwischen auf die SPD-Abgeordnete Ülker Radziwill ein. Er sei enttäuscht vom Staat, sagt er, fühle sich ausgegrenzt und wegrationalisiert. Früher war er mal Lackierer, als er das nicht mehr machen konnte, kamen ABM-Maßnahmen, ein Studium hat er auch noch versucht. Jetzt muss er mit 694 Euro Rente über die Runden kommen, „was viel zu wenig ist“.

Termin beim Jobcenter? Nicht hingegangen.

Am Tisch sitzt auch ein Mann, der lange schweigt, bis die Abgeordnete ihn nach seinen Problemen befragt. In gebrochenem Deutsch erzählt er, dass er seit sieben Monaten auf der Straße lebt. Seine Arbeit im Schlachthof hat der 39-Jährige nach 16 Jahren verloren. Ursprünglich kommt er aus dem Iran. Eine Ausbildung hat er nicht. „Sie müssen ins Jobcenter gehen, was ist mit einer Qualifizierung?“ „Die sagen, das geht nicht.“ Ülker Radziwill wird energisch: „Sie müssen sich beraten lassen, Sie könnten sich weiterbilden.“ Der Mann nickt resigniert. Gerade an dem Tag hatte er einen Termin im Jobcenter, ist aber nicht hingegangen.

Der entschiedene Kapitalflucht-Experte erläutert seine dezidierten Ansichten zur Finanzpolitik inzwischen dem Kandidaten „Alternative für Deutschland“, Hugh Bronson. „Ich bin dagegen, wie uns der Euro aufgezwungen wird“, dröhnt er. „Was, Sie sind gegen den Euro?“, fragt Bronson erfreut. „Dann passen Sie doch ganz genau zu uns.“ Aber so leicht lässt sich der Wähler nicht ködern. Eigentlich tendiert er eher zu den Linken, die natürlich auch vertreten sind. Eine arbeitslose Künstlerin könnte sich vorstellen, die FDP zu wählen, sie hat sich aber noch nicht entschieden. Ein seit langem arbeitsloser Politologe, der regelmäßig hierherkommt, zeigt sich ein bisschen enttäuscht über den vergleichsweise geringen Andrang. Nur zwölf Besucher sind da. „Sonst ist es viel voller.“ Klar, er findet das Projekt gut und hat auch differenzierte Ansichten zu den Parteien.

Bevor sie sich nach anderthalb Stunden verabschiedet, steckt Ülker Radziwill schnell noch der Frau mit der Stoffwechselkrankheit einen Zettel mit ihrem Namen zu. Falls es mal wieder Probleme mit dem Betreuer gibt. Für sie gehe es gar nicht darum, Wählerstimmen zu fangen, sagt sie. Sie will vor allem lernen, was die Menschen bewegt. Die Themen an den Tischen blieben sich ähnlich. Unter Sparmaßnahmen leiden vor allem die Armen. Auch die Kandidatin Dagmar König will etwas mitnehmen von den Anliegen der Menschen. An diesem Nachmittag sagt sie: „Über die Gesundheitsversorgung armer Menschen muss intensiver nachgedacht werden.“

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