zum Hauptinhalt
Findet Berlin zurück an die Spitze? Womöglich mit Hilfe der Grünen?

© Doris Klaas

Spitzenkandidaten antworten Roger Boyes: "Endlich spricht einer aus, was Berlin fehlt"

Nicht die Stadt ist narkoleptisch, sondern die Politik, sagt Renate Künast – und beruft sich auf Willy Brandt und Volker Hassemer. Eine Antwort von Berlins Grünen-Spitzenkandidatin auf Roger Boyes.

„Times“-Korrespondent und Tagesspiegel-Kolumnist Roger Boyes hat Anfang Juli mit einem Essay von Berlin Abschied genommen und ist mit der Stadt hart ins Gericht gegangen: Unter der Überschrift „Wie Berlin uns alle betrügt“ kritisierte Boyes Berlin als Stadt, die von der „Schlafkrankheit“ befallen sei und sich wieder stärker öffnen müsse. Nachdem mehrere andere ausländische Berlin-Korrespondenten ihre Sicht auf die deutsche Hauptstadt geschildert haben, ergreifen jetzt Berlins Spitzenkandidaten für die Wahl des Abgeordnetenhauses das Wort. Den Anfang hat CDU-Landeschef Frank Henkel gemacht, diesmal schaltet sich Renate Künast, die Spitzenkandidatin der Grünen, in die Diskussion ein. Als Nächster kommt Christoph Meyer (FDP) zu Wort. Klaus Wowereit (SPD) und Harald Wolf (Linke) wollen sich bislang nicht an der Debatte beteiligen.

Roger Boyes sagt Berlin Goodbye – „und nicht mit Kuss, Kuss, Kuss“. Ich habe seine Abschiedskolumne gelesen und zunächst stockte mir der Atem. Darf der das?! Darf man so über unsere Stadt schreiben?! Der genaue Beobachter Boyes lebt über 20 Jahre hier in Berlin und stellt Berlin ein niederschmetterndes Zeugnis aus. Aber halt! Meint er wirklich Berlin, oder macht er den feinen aber entscheidenden Unterschied zwischen Berlin und Berliner Politik?

Endlich spricht einer aus, was Berlin fehlt, bei allem Charme und bei aller Lebensqualität unserer Stadt. Ich lese, dass Berlin „unter einer Folge von mittelmäßigen Politikern, an deren Spitze Klaus Wowereit zu nennen ist, zu einer zweitklassigen Hauptstadt wurde“. Und nach einigem Überlegen sage ich: Ja, der Boyes darf das. Jemand muss das mal aussprechen. Es ist höchste Zeit, dieses Urteil über die Berliner Landesregierung zu diskutieren und nicht gleich wieder unter den medialen Teppich zu kehren.

Dieser Autor liebt Berlin. Liebe ist aber auch, dem Geliebten zu sagen, wenn er Fehler macht. Und es gibt einiges, was falsch läuft. Da ist zuerst die aufgehaltene Hand, für die der Berliner Senat bundesweit traurige Berühmtheit erlangt hat. Ja, es gab auch mal eine Zeit, in der sich dieser Senat verdient gemacht hat. Am Beginn dieses Senates, in den Jahren 2001 bis 2006, hatte man sich der Aufgabe der Haushaltskonsolidierung und dem Aufräumen des Bankenskandals gestellt. Nur verließ die Koalitionäre in den letzten Jahren der Reform- und Gestaltungswille. Seit Karlsruhe im Oktober 2006 Berlin den Anspruch auf Sonderzuweisungen absprach, hat Klaus Wowereit kein Regierungsziel mehr und seinem Senat fehlen Richtschnur und Leitbild für die Zukunftsgestaltung der Stadt.

Heute kann von Haushaltskonsolidierung keine Rede mehr sein. Keine Anstrengung, nichts. Die Haushaltsnotlage droht wieder. Die Bezirke werden bis zur Handlungsunfähigkeit ausgehungert. Es gab und gibt seit Jahren keine aktive Wirtschaftspolitik. Die Sozial- und Arbeitsmarktpolitik verfehlte alle Ziele. Für Klimaschutzpolitik fehlt jedwedes Gefühl und es ist kein Konzept erkennbar, Umwelttechnologien zur Stärkung der Wirtschaft nutzbar zu machen. Ernsthafte Debatten zur Stadtentwicklung finden eher im Verborgen statt und potenzielle Flaggschiffe wie Tempelhof und Tegel kommen nicht voran. Für gestaltende Wohnungspolitik sah die Sozialdemokratie keinen Bedarf. Die Verkehrspolitik wird von dem Wunsch dominiert, der Bund möge das bundesweit teuerste Stück Autobahn spendieren. E-Mobility ist nur dann auf der Agenda, wenn der Bund ein Pilotprojekt finanziert. Es gab keine erkennbare Integrationspolitik, obwohl der Regierende als stellvertretender Bundesvorsitzender in seiner Partei dafür zuständig ist. Die rot-rote Bundes- und Europapolitik war peinlich und dilettantisch. Das Parlament wurde mit Verachtung bedacht.

Lesen Sie auf Seite 2, warum Renate Künast glaubt, dass es die Grünen besser können.

Renate Künast gibt dem scheidenden „Times“- Korrespondenten Roger Boyes und dessen Berlin-Kritik in vielen Punkten Recht – legt aber Wert auf einen feinen Unterschied.
Renate Künast gibt dem scheidenden „Times“- Korrespondenten Roger Boyes und dessen Berlin-Kritik in vielen Punkten Recht – legt aber Wert auf einen feinen Unterschied.

© Thilo Rückeis

Hauptstädte und Metropolen stehen aber weltweit im Wettbewerb. Die großen Städte müssen Träger der wirtschaftlichen Modernisierung ebenso wie der sozialen und kulturellen Integration und Vorbild für Klima- und Umweltschutz sein. Die Stadt der Zukunft muss wirtschaftliche, ökologische und soziokulturelle Ziele kreativ miteinander verbinden und staatliches und bürgerschaftliches Handeln gleichermaßen mobilisieren. Es geht darum, die Anforderungen des Klima- und Umweltschutz in intelligente und nachhaltige Wirtschaftsprozesse umzuwandeln und mit einem gesellschaftlichen Aufbruch zu verknüpfen, der die Bürgerschaft positiv motiviert und mitnimmt. In Berlin muss dies in den kommenden Jahren mit viel Ideenreichtum und bei knappsten Kassen geleistet werden, denn die Zeiten, wo Politik einfach mit Geld gemacht wurde, sind vorbei.

Können es die Grünen denn besser? Ja, sicher. Als erstes wollen wir die wirtschaftspolitische Passivität überwinden. Ein neuer Senat muss alles tun, um Berlin zur Stadt der „Green Economy“ zu machen. Dafür müssen endlich auch Berlins Hauptstadtpotenziale und das dichte Wissenschaftsnetzwerk genutzt werden.

Berlin braucht eine Investitionsstrategie für Infrastrukturerneuerung mit Klimaschutz und neuen Energien. Berlin braucht klare Prioritäten in der Stadtentwicklung, Wer alles gleichzeitig will, bringt nichts richtig voran!

Das wohnungspolitische Instrumentarium, mit dem dämpfend auf die Mietentwicklung eingewirkt werden kann, muss auch mal genutzt werden. Mit den städtischen Wohnungsunternehmen, mit Genossenschaften und Selbsthilfegruppen sollen auch Impulse für neues bezahlbares Wohnen gesetzt werden, zum Beispiel durch preiswerte Grundstücksvergabe.

Bessere Schulen sind unser politischer Schwerpunkt. Die Jüngsten sind unsere Zukunft und Investitionen in gute Schulen und ausreichend Lehr- und Hortpersonal sind preiswerter als steigende Kosten für die nachsorgenden Hilfen zur Erziehung. Es ist einfach an der Zeit, dass die Berliner Landespolitik aufbricht und den Wettbewerb mit anderen Metropolen und anderen Regionen annimmt.

Aber, lieber Roger Boyes, ich will Ihnen an einer Stelle widersprechen, denn es gibt noch diese andere Berliner Wirklichkeit: Berlin lässt es sich nicht länger bieten, schlecht regiert zu werden. Wir erleben gerade drei Volksbegehren gegen die Politik dieses Senates. Wenn es um bessere Grundschulen geht, um Flugrouten oder um die S-Bahn nehmen die Bürgerinnen und Bürger die Zukunft lieber selbst in die Hand. Die Politik ist gut beraten, den Dialog mit den Menschen in der Stadt wieder aufzunehmen. Das haben die Sozialdemokraten unter Willy Brandt mal vermocht. Heute beklagen seine Nachfahren, es gäbe zu viele Volksbegehren.

Ich will darauf hinaus, dass die beschriebene „Narkolepsie“ nur für die Politik, nicht aber für die Stadt eine zutreffende Diagnose ist. Diese Stadt hat zu viel Potenzial um selbstgerecht auf der Stelle stehen zu bleiben und sich mit dem zufrieden zu geben, was gerade ist. An dieser Stelle fällt mir ein Zitat von Volker Hassemer ein: „Berlin hat die Lizenz, Bedeutendes zu tun.“ Das zweitklassige Regieren wird aufhören und im Aufbruch bleiben wir die liebenswürdige Stadt Berlin, in die sich nicht nur Renate Künast und Roger Boyes verliebt haben.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false