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Berlin: Spuren an der Wand

Buchstaben, Zahlen, Worte – die Wände des Stasigefängnisses Hohenschönhausen erzählen von der Diktatur. Kripotechniker helfen, Geschichte zu entschlüsseln

Um winzige Dinge geht es in dieser Geschichte. Dinge, die es gar nicht geben sollte. Spuren an einem Tatort, der bisher noch nie kriminaltechnisch gewürdigt wurde. „Sie sind zart und zerbrechlich und in vergänglichen Materialien“, sagt Christiane String, als wir wieder draußen stehen, auf dem Hof beim Eingang, wo Schülergruppen schnattern und man wieder den Himmel sehen und frischen Wind spüren kann. Der Hof gehört zu einer Gedenkstätte. Hier lag bis zum Ende der DDR die zentrale Untersuchungshaftanstalt des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS). Hier saß außerdem das „Untersuchungsorgan“ des MfS, die Zentrale aus Geheimdienst, Polizei und Staatsanwaltschaft, aus der die Direktiven für den gesamten Repressionsapparat der DDR kamen.

UHA Hohenschönhausen. Ein unguter Ort. Ein Ort, an dem auf zynische Weise „der Mensch im Mittelpunkt“ stand: als Objekt der operativen Psychologie, die die Zersetzung der Persönlichkeit zum Ziel hatte. Wer hier eingeliefert wurde, wusste nicht einmal, wo er war. Er kam nach stundenlangen Verhören nach allen Regeln der Einschüchterung, ohne Anwalt selbstverständlich, in eine Einzelzelle mit Pritsche, Stuhl, Tisch, Waschbecken und Klo und Glasbausteinen statt Fensterscheiben. Isoliert und orientierungslos. Er schlief mit den Händen auf der Decke, und dauernd ging das Licht an, schabte etwas außen an der schweren Holztür, dann blieb es eine Zeit lang still, und schließlich wurde die Metallblende über dem Türspion losgelassen und schlenkerte klackernd noch ein paarmal hin und her. Wer aus diesem „Verwahrraum“ geholt wurde – zum Duschen einmal die Woche, zu Verhören überfallartig jederzeit –, hatte sich mit Nummer zu melden und hörte barsche, knappste Befehle. Keine Kommunikation außer mit Vernehmungsspezialisten. Keine Uhr. Kein Kontakt mit Mithäftlingen. Falls sich doch mal zwei Wege kreuzten, wurde einer schnell wieder weggesperrt oder stand mit dem Gesicht zur Wand, so lange, bis der andere außer Sicht war.

Christiane String ist wissenschaftliche Mitarbeiterin der Gedenkstätte und zuständig für Ausstellungen und die Sammlung der Zeugnisse. Die zarten vergänglichen Dinge, die sie meint, sind Zeichen auf Wänden. „Wir hatten Restauratoren beauftragt, die eigentlich zerfallende Tapeten und Wandanstriche untersuchen sollten, um sie bewahren zu können.“ Claudia Boerger ist Restauratorin und spezialisiert auf Architekturfassung und Wandbemalung. Was sie seit November 2006 hier tut, klingt fast wie eine archäologische Ausgrabung. „Wir legen Farbleiterschnitte an, um herauszufinden, wie die verschiedenen historischen Farbgebungen waren“, erzählt sie, „das gibt schon viele Informationen über den Geschmack und auch über die Nutzung der Räume.“

Der Vernehmertrakt hat Wände in Hellblau, Rosa oder Apricot unter zuletzt bunt gemusterten Tapeten, der Zellentrakt dagegen liegt unter Schichten in Ocker-Grau wie unter Mehltau. Die Räume für die Wachmannschaften haben öfter die Funktion gewechselt, nachweisbar am Dekor. „Und bei der Untersuchung haben wir zufällig eine Einritzung entdeckt, nur ein paar Millimeter hoch, in der weißen Leimfarbe.“ Das ist die Initialzündung. „Dann haben wir wirklich mit der Stirnlupe Wandfläche für Wandfläche abgesucht.“ In den Fluren finden sie hunderte kleiner Spuren: Buchstaben, Zahlen, Striche, sogar kleine Gesichter. Manche Zahlen bilden ein Datum, andere sehen aus wie Preise. Manche Buchstaben sind wohl Namen, andere ergeben „Kaffee“.

Die Striche kennt man aus Knastwitzen: „Kalender, mit denen die Häftlinge versucht haben, sich ein Verhältnis zur Zeit zu bewahren“, sagt Claudia Boerger, „die gibt’s in allen Größen.“ Einige wenige Zeichen finden sich in den Zellen. Warum so wenige? „Wir vermuten, dass es in den letzten Zeiten der DDR noch Renovierungsaktionen gegeben hat, um die Spuren der Häftlinge zu beseitigen.“ Für die Flure hat es nicht mehr gereicht, „oder man hat sie da übersehen.“ Die Zellen sind zumeist frisch geweißt, wenn auch inzwischen angegraut. Aber sie finden trotzdem noch Spuren. Nicht da, wo die Farbe aufgerollt wurde, da ist die Schicht zu dick. „Aber wo sie klassisch mit der Leimbürste aufgetragen wurde, da konnten wir mit Streiflicht tiefer liegende Einritzungen erkennen.“

Claudia und Kathrin Boergers Detektivarbeit ergibt bald einen dicken Stapel Papier, mit dem wir durch die Flure gehen. Auf Lageplänen sind mit roten Punkten die Fundstellen markiert, die Tabellenseiten sind voller Zeilen wie dieser: „234/1 – über WC in der Zelle – 1,64 – 1,68 – 23.8.89“. Und tatsächlich, in Zelle 234 im zweiten Stock steht über dem Klo, 1,64 m über dem Boden und vier Millimeter groß, dieses Datum, das sich der Auslöschung widersetzt hat und verrät, dass die Zelle frühestens Ende August 1989 gekalkt worden sein kann. Mitten in diesem aufgeregten Sommer, in dem die Stasi mit allem rechnet und viel Platz für Regimegegner braucht? Oder nach der Erstürmung der Stasizentrale in der Normannenstraße? Oder kurz bevor Hohenschönhausen „dem Klassenfeind“ übergeben werden muss? Noch wissen sie das nicht.

Die Forschungsarbeit der Gedenkstätte ist ein kompliziertes Puzzle aus Häftlingszeugnissen und Material aus den Archiven der Bundesbeauftragten für die Stasiunterlagen. Dokumente über die Zeit, als der Altbau erst sowjetisches Speziallager, dann Haftanstalt war, liegen in Moskau. Und vom ehemaligen MfS möchte bisher niemand zur Aufklärung beitragen. Die Stasi betrieb die Anlage ab 1951 fast vierzig Jahre lang, füllte sie mit Andersdenkenden wie Walter Janka und aufständischen Arbeitern wie denen vom Juni 1953 und ließ sie Ende der 50er Jahre von Zwangsarbeitern aus dem eigenen Arbeitslager X nebenan um einen u-förmigen Neubau erweitern. So war praktischerweise nach dem 13. August 1961 genug Platz für die vielen DDR-Bürger, die ihrer Republik lieber den Rücken kehren wollten, und ihre Helfer aus dem Westen. In den 70er und 80er Jahren durfte auch fast die komplette DDR-Opposition die drei Stockwerke kennenlernen. Den Schriftsteller Jürgen Fuchs haben sie an Kafka denken und sich fast wünschen lassen, er könnte wie Gregor Samsa als Käfer aufwachen.

Seit Anfang 2007 passiert hier Tatortarbeit. Eine ungewöhnliche Tatortarbeit. Die Berliner Polizei will ihren Teil zur Arbeit der Gedenkstätte beitragen und schickt, wann immer aktuelle Ermittlungseinsätze es zulassen, ihre Kriminaltechniker nach Hohenschönhausen. Im dritten Stock vor einer Wand voll kleiner Zettel – Markierungen aus dem Boerger’schen Kartierungswerk – bauen Katja Wild und eine Kollegin Kamerastativ und Lampen auf. Sie gehören zum LKA KT 14, der Kriminaltechnik 14 des Landeskriminalamts. „Wir setzen ein flaches Streiflicht so seitlich, dass es einen ganz leichten Schatten in die Vertiefung der Einritzung wirft“, beschreibt sie, „dann wird ein Maßstab dicht an die Wand gedrückt, damit der keinen Schatten wirft, und jetzt“, sie dreht am Belichtungsrädchen, „ lösen wir aus.“ Klack. „Das war zu hell!“ Noch mal. Kniffelige Arbeit, erleichtert durch Digitalkameras, mit denen sich das Abgebildete sofort kontrollieren lässt.

Ein paar Zellentüren weiter steht Heike Freigang mit einem flachen dunklen Kästchen. Kaltlicht. „Zeilenlicht nennt sich das, ein sehr gebündeltes, schmales Licht, um Oberflächen besser sichtbar zu machen“, erklärt Gerhard Grube. Die beiden gehören zur KT 32, zuständig für Urkunden und Handschriften, Heike Freigang ist Kriminaloberkommissarin, Gerhard Grube ausgebildeter Psychologe und Sachverständiger für Handschriftenvergleich. An Tatorten sind sie sonst nie. „Bedrohungsbriefe, Kontoüberweisungsträger, Unterschriften unter Verträgen, die kann man nur am Schreibtisch und im Labor untersuchen. Aber hier kommt die Schrift nicht zu uns, da muss man halt selbst zur Schrift gehen.“ Und diese Schrift hat es in sich: „Alle diese Schreibleistungen sind mit nichteinfärbenden Schreibmitteln gefertigt worden.“ Kein Kugelschreiber, kein Bleistift, sondern? Claudia Boerger und Christiane String vermuten vor allem Fingernägel, mit denen heimlich, beim Stehen mit dem Gesicht zur Wand, geritzt wurde. Grube findet viele Inschriften dafür „zu flüssig geschrieben, von der Strichführung und Breite her sehen sie aus wie durchgedrückt.“ Das heißt, jemand hat die Wand als Unterlage für einen Zettel genommen und ganz offen und in aller Ruhe mit irgendeinem Stift etwas aufgeschrieben. Und was? Namen sind relativ einfach. „Hier unten“, sagt Heike Freigang, „das W, das D, das E und das hier, würde ich denken, ist eine R-E-Verbindung: könnte WREDE heißen.“ Zur Zahl hinter dem Wort KAFFEE hat sie die Hypothese: „8,75 – wenn mich nicht alles täuscht, war das damals der Preis, und dann könnte das eine Bestellung sein.“

Claudia Boerger findet die Idee, dass Häftlinge bei Wärtern Kaffee bestellen, „schwer vereinbar mit dem, was man aus dem Alltag hier weiß. Und wenn es aus der Zeit nach der Wende stammt, passt der Preis nicht. Aber es kann natürlich eine Art Schwarzmarkt gegeben haben. Man weiß es einfach nicht.“ Bis aus den Fotos und den Expertisen des LKA ein Bericht geworden ist, werden noch Monate vergehen. „Allein für diesen Flur“, schätzt Grube, „brauchen wir drei Tage.“

Bleibt noch ein besonders unguter Teil des Tatorts Hohenschönhausen zu bearbeiten. Noch pedantischer, wenn irgend möglich, denn seine Existenz wird gern bestritten von ehemaligen Stasileuten: die Gummizellen. Auch die dicken schwarzen Fließbandgummiflächen sind geritzt worden. Wenn nur eine dieser Spuren nachweisbar von vor der Wende stammt, wird die Behauptung, die Gummizellen seien nachträglich eingebaut worden, „vom Klassenfeind“, womöglich justiziabel.

Hier unten im Keller bekommt das Wort „Terrorzelle“ einen neuen Sinn, stehen die Schülergruppen vor der offenen Tür und hören beklommen, was ehemalige Häftlinge berichten. Hohenschönhausen kann man sich nur geführt ansehen, meistens von Menschen, die hier einst Objekte der Zersetzung waren. Draußen im Hof, wo die nächsten Schülergruppen noch nichtsahnend schnattern, bringt Christiane String auf den Punkt, worum es bei dem ganzen mühsamen Puzzle geht: „Das Schönste wäre, wenn wir aus einer Spur in der Wand wieder einen Menschen bekommen, der das hier erlebt hat.“

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