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Berlin: Spuren eines kurzen Lebens

Vor einem Jahr, einen Tag vor Heiligabend, wurde in Potsdam-West der Leichnam eines Säuglings gefunden. Was seitdem geschah.

Potsdam - Eine einzelne Rose liegt neben dem vergoldeten eiförmigen Stein auf dem wuchtigen Granitfindling. Vor den Gedenkstein auf dem Bornstedter Friedhof hat jemand eine weiße Engelsfigur gestellt, daneben liegt eine lachende Stoffpuppe, ein blutroter Weihnachtsstern, mehrere Gestecke. Hier ruht jemand, der offensichtlich nicht vergessen ist. Dabei hat das kleine Mädchen, das hier begraben ist, nicht einmal einen Namen. Es starb unter erbärmlichen Umständen nur Stunden nach seiner Geburt. Am Sonntag jährt sich der Fund des toten Babys in Potsdam-West zum ersten Mal. Die Identität seiner Eltern ist weiter ungeklärt. Der tote Säugling, eingewickelt in ein mit Blut verschmiertes Handtuch, lag an der Böschung zu einer Bahnstrecke an einem Garagenkomplex in der Kantstraße im Stadtteil Potsdam-West. Am Tag vor Heiligabend entdeckte ein Anwohner das Bündel, als er am Morgen seinen Wagen holen wollte.

Ein Jahr später erinnert am Fundort nichts mehr an das Drama. Die grauen Garagenmauern sind mit schwarz-weißen Graffiti bedeckt. Der Komplex liegt in einem toten Winkel des Wohnviertels. Hier kommt nur vorbei, wer sein Auto holen oder abstellen will. Gut zwei Kilometer Luftlinie sind es von der Kantstraße bis zum Büro von Bernd Schulz in der Henning-von-Tresckow-Straße. Der Chef der Potsdamer Mordkommission führt seit einem Jahr die Ermittlungen in dem Fall. Auch wenn er als Mordermittler einiges gewohnt ist in seinem Job, wie er selbst sagt – der Fund der Babyleiche in Potsdam-West hat auch ihn betroffen gemacht. „So etwas geht nicht spurlos an einem vorbei“, sagt der 57-Jährige: „Dass so etwas auch noch kurz vor Weihnachten geschah, belastet einen zusätzlich.“

So wie Bernd Schulz ging es vielen Potsdamern. Rund 150 Gäste kamen zur Beerdigung Mitte Februar auf dem Bornstedter Friedhof. Einen Gedenkgottesdienst zum Jahrestag wird es aber nicht geben. „Das brauchen wir nicht, das Gedenken funktioniert momentan auch so“, sagt Jutta Erb-Rogg, die Leiterin des Friedhofes. Das Grab des Mädchens, an dem im Sommer der Gedenkstein des Berliner Bildhauers Michael Spengler aufgestellt wurde, sei außerordentlich gut besucht. Immer wieder werden kleine Gaben, Blumenschmuck oder Kerzen aufgestellt. Immer wieder gibt es Gespräche über das Schicksal des Babys – aber auch über die mögliche Not der Mutter. „Das ist ein bleibender Prozess“, sagt die Friedhofsleiterin. Das Interesse ist für sie auch Zeichen dafür, „dass da eine offene Wunde ist“.

Gerade wenn kleine Kinder zu Tode gekommen sind, sei der Ehrgeiz der Ermittler besonders groß, die Tat aufzuklären, sagt Kriminalhauptkommissar Schulz. Wohl schon mehr als 100 Beamte haben im abgelaufenen Jahr an dem Fall gearbeitet – immer abhängig von der aktuellen Hinweis- und Spurenlage.

Doch bislang gibt es keine heiße Spur. Bei einem Zeugenaufruf in der ZDF-Sendung „Aktenzeichen XY ... ungelöst“ Anfang Juli gingen rund 30 Tipps ein. 10 000 Euro lobten Polizei und Staatsanwaltschaft als Belohnung für Hinweise aus, die zur Aufklärung des Falls führen. Doch das alles brachte vorläufig nichts. „Wir arbeiten in akribischer Detailarbeit“, sagt Schulz. „Jeder Hinweis muss ausgewertet werden.“ Die Ermittler setzen auch auf den freiwilligen Speicheltest bei Frauen, die zur Tatzeit hochschwanger gewesen sein könnten. Bislang gab es keine Übereinstimmung mit den Spuren vom Fundort. „Es ist aber nicht zwingend davon auszugehen, dass die Mutter die Tat begangen hat“, sagt Schulz. Die Mutter könne aber zum Täter führen.

Fest steht bislang nur wenig: Als der Anwohner das Baby am 23. Dezember 2011 auffand, war es bereits tot. Die Rechtsmediziner fanden bei der Obduktion heraus, dass es in der Nacht zuvor lebend geboren wurde und danach durch Gewaltanwendung zu Tode kam. Die Ermittler haben die DNA-Spuren sowie das Handtuch mit Blutspuren, in das die Leiche gewickelt war – und sie konnten die DNA der Mutter finden. Falls es irgendwann eine Tatverdächtige gibt, kann die Mutter so per DNA-Test eindeutig identifiziert werden. Außerdem haben Zeugen in der Nacht vor dem Babyfund einen dunklen Pkw mit PM-Kennzeichen in der Nähe des Garagenkomplexes gesehen.

Allein dieser Anhaltspunkt führte zu umfangreichen Prüfungen von Tausenden Fahrzeugen – ohne Ergebnis. Eine anfängliche Vermutung der Polizei, das Baby könnte aus einem vorbeifahrenden Zug geworfen worden sein, bestätigte sich im Laufe der Ermittlungen nicht.

Unter Ermittlern gibt es ein ungeschriebenes Gesetz: Je länger es dauert, den Täter zu finden, desto unwahrscheinlicher wird es, dass ein Fall aufgeklärt wird. „Aber so alt ist dieser Fall nicht“, sagt Schulz. Resignieren kommt für ihn nicht infrage. „Das wollen und werden wir aufklären.“ Auf dem Bornstedter Friedhof spiele die Schuldfrage oft eine Rolle – und die Frage nach dem Wert eines Menschenlebens, sagt Jutta Erb-Rogg. „Die meisten Besucher verstehen sehr gut das schwierige Verhältnis von Tätersein und Opfersein“, sagt sie: „Das Leben ist nicht schwarz-weiß.“ Manchmal sind es auch einfache Gesten, in denen sich Anteilnahme ausdrückt. Wie am Freitag vor Totensonntag. Da kam eine Gruppe Friedhofsgärtner zum Friedhof. „Wir decken jetzt die Grabstelle für den Winter zu“, erklärten sie der überraschten Friedhofsleiterin. Eine kleine Selbstverständlichkeit, wie sie das Mädchen zu Lebzeiten nie erfahren hat.

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