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Stadtentwicklung: Nach den Gauklern kommen die Makler

Kaum eine Brache in Berlin bleibt ungenutzt – bis die Stadt sie überwuchert. Ein Rückblick auf die großen Leerstellen der Stadt, ihre Zwischennutzungen und das Wachsen der Metropole.

Noch ist es ziemlich dunkel hier drinnen. Die Zeltplane hängt schlaff von den vier 25-Meter-Masten. 60 Männer in grellen Warnwesten und Bauarbeiterhelmen wuseln herum. „Alle sammeln“, brüllt Tanja Spelz, Zeltspezialistin und am Mittwochmittag die einzige Frau im „Grand Chapiteau“ des kanadischen Cirque du Soleil. Seit Dienstag wird das riesige Zelt auf der großen Brache an der Heidestraße, unweit des Hauptbahnhofs, aufgebaut. Von Ende November bis Ende Dezember werden dort Artisten die Show „Corteo“ aufführen. Aber jetzt müssen erst einmal die 60 Mann das Zelt mit 100 Stangen aufrichten und die Dachplane spannen: Jeweils zu dritt packen sie die 20-Kilo-Metallrohre und schieben sie unter Ächzen und Gebrüll über den Betonboden, immer 20 Stangen auf einmal.

Zwei Sanitäter warten in der Zeltmitte auf einen möglichen Einsatz, doch es geht alles gut. Nach einer knappen Viertelstunde ist das Dach straff gespannt, noch fehlen die Seitenplanen. Während ihre Kollegen die Bühne aufbauen, sagt Tanja Spelz: „Wir sind immer auf solchen Brachen wie dieser hier. Wir brauchen einen großen Platz, auf dem wir die zwei Meter langen Erdnägel in den Boden rammen können.“ Sie war auch beim letzten Mal dabei, als das Cirque-du-Soleil-Zelt in Berlin aufgebaut wurde, 2008 neben dem Ostbahnhof, ebenfalls auf einer Brache. Dort entstand kurz darauf die O2-World. Auch das Gelände an der Heidestraße wird bald keine Brache mehr sein. Im nächsten Jahr sollen dort die Bauarbeiten für ein neues Stadtviertel beginnen. Das Deutsch-amerikanische Volksfest muss sich dann ebenfalls einen neuen Standort suchen – schon zum zweiten Mal: Vorher fand es jahrzentelang an der Clayallee in Zehlendorf statt – bis auch dort gebaut wurde.

Erst Brachgelände, dann Zirkus im weitesten Sinne, schließlich Bagger, Kräne und andere Baumaschinen, die Riesenlöcher buddeln und sie mit Betonklötzen füllen – das hat in Berlin, besonders nach dem Ende der Teilung, Tradition. Später entscheiden an den fraglichen Orten Nadelstreifenträger über die Geschicke von Firmen, wird geplant und verwaltet, glitzern die Leuchtreklamen und verfallen Konsumentenscharen in Kaufrausch. Aber vorher kommen die Gaukler und Clowns, die Künstler und Musiker.

Der Potsdamer Platz: die Mutter aller Brachen.

An wohl keinem Ort in der Stadt war das deutlicher zu beobachten als im Großraum Potsdamer Platz, sozusagen der Mutter aller Brachen. Die Mauer war noch nicht mal ganz abgeräumt, ja sie wurde in Teilen sogar eigens stehen gelassen als angemessene Dekoration, da lud Roger Waters, Ex-Frontmann von Pink Floyd, am 21. Juli 1990 auf dem öden Gelände zu dem Rockspektakel „The Wall“, was Hunderttausende anlockte. Was einem Rockstar recht war, konnte einem Stardirigenten nur billig sein, und so kam Lorin Maazel dem Pink-Floyd-Veteranen dort sogar um einige Wochen zuvor, hatte sich anspielungsreich Gustav Mahlers „Auferstehungssymphonie“ ausgesucht und mit Musikern aus fünf Berliner Orchestern und Sängern aus acht Chören, Ost-West gemischt, dargeboten.

Aber insgesamt dominierten auf dem Potsdamer Platz – und nachdem der zubetoniert war, nebenan auf dem Leipziger Platz – das Circensische als Lückenfüller, so beim Gastspiel von Zirkus Krone Anfang 1992. Gern ging es dabei megalomanisch zu, etwa als 1999 Zirkus Berolina sich als „größter Drei-Manegen-Zirkus Europas“ empfahl und sogar einen Tiger auf einem Elefanten balancieren ließ. Vier Jahre später beglückte am selben Ort Zirkusdirektor und Magier André Sarrasani sein Publikum. 2007 war es dann die Pferdeshow „Cavalia“.

Auf dem Potsdamer Platz hatte Anfang der achtziger Jahre auch das Tempodrom im Zelt begonnen, das später an den Tiergartenrand verlagert wurde. Der hauptstadtbedingte Neubau des Kanzleramtes führte zum erneutem Umzug, diesmal an den Anhalter Bahnhof, wo aus dem Stoffzelt eines aus Beton wurde – begleitet von einem Bauskandal, der Stadtentwickungssenator Peter Strieder das Amt kostete.

Auch Jahrmärkte waren in der Vergangenheit schon Verschiebemasse für anstehende Großbauprojekte. Legendär ist noch immer der Ost-Berliner Weihnachtsmarkt der Vorwendezeit. Ein Parkplatz von respektabler Größe wurde dafür jahrein, jahraus genutzt. Den Markt gibt es noch, aber verkleinert. Das dicke Geschäft findet jetzt im Alexa statt, das auf die Freifläche geklotzt wurde.

Nun also ergeht es auch der Heidestraße so. Die Gegend war seit Jahren für Gastspiele gut, eine Zwischenkultur, die jetzt endet: Im Vorjahr gastierte dort noch der Zirkus „Menschen, Tiere, Sensationen“, ebenso das Musical „Cats“. André Hellers Show „Afrika! Afrika!“ schlug 2006 am Hauptbahnhof ihr Zelt auf. Und die Sandskulpturen-Show „Sandsation“ gastierte bis 2008 am Ufer zwischen Hauptbahnhof und Humboldthafen. Dort stand auch lange das „Traumtheater Salome“. Sie alle mussten weichen. Denn für die Grundstücke am Humboldthafen sucht der Liegenschaftsfonds Investoren – auf 12 000 Quadratmeter Land sollen Wohnungen und Gewerbe entstehen, zunächst an der Invalidenstraße, gegenüber vom Hamburger Bahnhof. Dort lädt derzeit noch Hans-Peter Wordarz’ „Palazzo“ zum Dinner mit Artistik-Show. Mit diesen Konzept ist der Gastronom schon unter verschiedenen Namen durch die Stadt gezogen. Zuletzt stand sein Zelt auf der anderen Seite des Hauptbahnhofs auf dem Washingtonplatz. Heute wartet dort ein Hotel auf Gäste.

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