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Grenzgänger: Sally Ollech und Carsten Voss, der einst ohne Wohnung war, machen das Thema Obdachlosigkeit zum Thema einer Stadtführung.

© Kai-Uwe Heinrich

Stadtführungen von Obdachlosen in Berlin: Unterwegs auf der Schattenseite

Wo kann man übernachten, wenn man obdachlos ist, wo in Ruhe sitzen und wo gibt es die meisten Pfandflaschen zu sammeln? Diesen für die meisten Berliner unbekannten Blick auf die Stadt zeigt eine neue, von Obdachlosen selbst entwickelte Stadtführung.

Der Mann auf der Bank hat seinen Kopf auf eine Plastiktüte mit dem Logo des FC Bayern München gebettet. Er bewegt den Kopf seltsam hin und her, so dass Carsten Voss auf ihn aufmerksam wird und fragt, ob alles in Ordnung sei. „Haste mal ’n Euro?“ fragt der Angesprochene. Voss schaut jetzt immer hin, wenn er das Gefühl hat, dass ein anderer Hilfe braucht. So wie hier, mitten auf dem Wittenbergplatz, während einer Stadtführung. Voss leitet die Tour – aus Sicht eines Obdachlosen. Sie heißt „Querstadtein“ und führt jeden zweiten Sonntag durch das nördliche Schöneberg. Veranstalter ist Stadtsichten, ein gemeinnütziger Verein, der sich gerade im Aufbau befindet. Voss wiederum ist 54 Jahre alt und ehemaliger Manager in der Modebranche. Nach einem Burn-out, wie er erzählt, sei er vor eineinhalb Jahren selbst wohnungslos geworden. Sechs Monate lang wohnte er bei Freunden und in einer Gartenlaube.

Berlin ist attraktiv für Obdachlose

Inzwischen hat Voss wieder eine eigene Wohnung in Wilmersdorf, er lebt von Hartz IV. Mit den Stadtführungen möchte er auf das Thema Obdachlosigkeit aufmerksam machen „In Berlin gibt es eine Menge Hilfe für Obdachlose, deshalb ist die Stadt für sie sehr attraktiv“, sagt Voss. Doch außerhalb dieser Einrichtungen werden die Menschen in Not immer mehr ignoriert, findet Voss. Er habe nie Angst gehabt, komisch angeschaut zu werden – immerhin gebe es ja eine Menge Freaks in der Stadt. „Wenn man gar nicht mehr angeschaut wird, ist das viel schlimmer“, sagt er. Auf der Tour verzichtet Voss trotzdem darauf, die sozialen Einrichtungen selbst anzusteuern, schließlich soll der Rundgang nicht voyeuristisch sein.

Eine Zahnlücke erinnert noch an seine schwerste Zeit. Bald will er die Lücke wieder schließen, dann wird äußerlich nichts mehr an seinen sozialen Absturz erinnern. Doch die Erinnerungen bleiben und die teilt er jetzt. Im Park etwa hat er immer auf der Schattenseite gesessen. So wie am Viktoria-Luise-Platz, eine der Stationen der Tour, mit gepflegten Grünflächen und dem imposanten Brunnen in der Mitte des Platzes. „Die berühmten Wilmersdorfer Witwen, die sitzen hier auf der Sonnenseite, da fühlt man sich dann nicht mehr wohl“, sagt Voss. Dabei bevorzugten, wie jeder andere, auch Obdachlose schöne Orte, sagt er. Hinzu kommen die Nähe zu einer Wohnungslosentagesstätte und die Jugendlichen, die hier ihre Pfandflaschen zurücklassen.

Obdachlose entwickelten die Stadtführung durch Berlin - und zeigen ihre Perspektive auf die Stadt

Das ist der Blick, den Voss vermittelt, er ist bestimmt von Sitzgelegenheiten, Nähe zu sozialen Einrichtungen, Pfandflaschenautomaten, 24-Stunden-Supermärkten und Spätis – wie am Nollendorfplatz, wo die Tour beginnt. Später geht es über den Winterfeldtplatz über den Viktoria-Luise-Platz zum Wittenbergplatz. Eines dürfe man nicht vergessen, sagt Voss. „Als Obdachloser hat man keine Privatsphäre mehr, man ist immer an öffentlichen Orten.“ Die halbe Stunde unter der Dusche in einer Wohnungslosentagesstätte und ein halbwegs privater Schlafplatz gehören zu den wenigen Ausnahmen.

Sally Ollech entschuldigt sich mehrfach für ihr Outfit. „Im Kostüm würde ich sonst nicht zu einer Obdachlosen-Stadtführung erscheinen“, sagt die 30-Jährige bei der Premierenführung. Doch Ollech kommt direkt aus dem Bundeskanzleramt, wo sie als eine der beiden Gründerinnen und als ehrenamtliche Mitarbeiterin für „Querstadtein“ eine Auszeichnung erhalten hat, im diesjährigen „startsocial“, einem Wettbewerb zur Förderung sozialer Ideen. Im vorigen Sommer hatte Ollech mit einer Freundin beschlossen, das Modell nach dem Vorbild einer Obdachlosen-Tour in Kopenhagen nach Berlin zu bringen. Mit fünf Obdachlosen und ehemals Obdachlosen sowie 15 ehrenamtlichen Mitarbeitern entwickelten sie die Stadtführung. Carsten Voss war über eine Wohnungslosentagesstätte in Charlottenburg hinzugekommen, in der er noch heute ehrenamtlich arbeitet. Die Führung geht jetzt durch seinen alten Kiez in Schöneberg, weitere Kieze sollen hinzukommen. Er erhält „einen fairen Anteil an den Einnahmen“, sagt Ollech.

Obdachlose sind mittendrin und trotzdem sieht man sie nicht

Zum Schluss steigt Carsten Voss mit den Teilnehmern in die U-Bahn zum Bahnhof Zoo. „Dazu braucht man ja nicht mehr viel zu sagen“, sagt Voss. „Drogen, Prostitution, Kriminalität, das ist heute immer noch so – es sieht nur ein bisschen schicker aus als früher.“ Der Weg zur Endstation der Stadtführung an der Gedächtniskirche ergibt für Carsten Voss ein klassisches Bild – vorbei bei „ Ullrich“, wo die Schlange der Flaschensammler steht, und am Waldorf Astoria, wo die dicken Autos parken. „Die Obdachlosen sind mittendrin und trotzdem sieht man sie nicht mehr“, sagt Voss. Zumindest bei der Stadtführung gucken die Menschen jetzt wieder hin.

Die nächsten Termine von Querstadtein sind am Sonntag, 16. Juni, und am Sonntag, 30. Juni, jeweils um 15 Uhr. Anmeldung unter www.querstadtein.org.

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