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Amerika-Gedenkenbibilothek

© Thilo Rückeis

Amerika-Gedenkbibliothek: Von "Nesthäkchen" zu "Harry Potter"

Vor 50 Jahren öffneten sich in der Amerika-Gedenkbibliothek die Räume für Kinder: Drei Geschwister erinnern sich an die Zeit, in der Bücher noch der Ausgangspunkt für Freizeitbeschäftigungen waren und an CDs und DVDs nicht zu denken war.

Nicht lange nach Krieg und Blockade lag Berlin noch grau in grau da, aber in der neuen Kinderbibliothek gleich unter der großen Lesehalle roch es frisch nach Farbe und Fantasie und Zukunft. Die Geschwister Schermall hatten sich zur Eröffnung am 18. November 1957 ihre Sonntagssachen angezogen. "Ich trug einen Faltenrock mit weißer Bluse", erinnert sich die damals 14-jährige Birgit, die heute mit Nachnamen Simon heißt. Der Anlass war es wert.

Das erste deutsche Modell der amerikanischen Public Librarys

Der verglaste Anbau mit eigenem Eingangsbereich übertraf alles bisher Gekannte. Schon die verglasten Räume, die schicken, glänzenden schwarzen Tische waren eindrucksvoll. "Alles war frisch und neu und sauber“, erinnert sich Hilmar Schermall. Aber das war noch nicht mal das Beste. Die Amerika-Gedenkbibliothek am Blücherplatz in Kreuzberg war die erste in Deutschland, die nach dem Modell der amerikanischen Public Librarys aufgebaut war. Das bedeutete, dass man nicht, wie früher üblich, über eine Theke die gewünschten Bücher beim Bibliothekar bestellen musste, sondern frei an die Regale herangehen und sich etwas aussuchen konnte. Ungehindert stöbern und ausprobieren, das gab es seit dem 18. November nun auch für Kinder. Niemand kontrollierte streng, ob man sich siebenjährig auch mal für ein Buch interessierte, das erst "ab neun" freigegeben war.

"Als Erstes habe ich das Tagebuch von Robert Scott gelesen", erinnert sich Hilmar Schermall. "Danach dann Karl May und Lederstrumpf." Seine Schwester Uta, die heute Saykam heißt und damals zwölf Jahre alt war, entdeckte "Heidi" und "Nesthäkchen" für sich, natürlich auch die "Pucki"-Bücher. Bücher von Astrid Lindgren gab es in den frühen Jahren noch nicht, auch Enid Blyton kam erst später dazu. "Aber Erich Kästner haben wir gern gelesen", erzählt Birgit Simon, und die Geschwister nicken: "Das fliegende Klassenzimmer" und "Emil und die Detektive". Dass man zu Hause viele Kinderbücher hatte, war so kurz nach dem Krieg einfach nicht üblich.

An CDs, DVDs, Videos war nicht zu denken

An all die anderen Angebote, auf die die heutigen Kinder zurückgreifen können, war natürlich auch nicht zu denken. Mit 16.000 Büchern fing es damals an. Heute hat die Kinder- und Jugendbibliothek 120.000 Medien, darunter CDs, CD-Roms, DVDs, Videos, Gesellschaftsspiele, Hörbücher, außerdem 4000 Bücher in 16 Fremdsprachen. Auch regelmäßige Schularbeitenhilfe in Englisch und Französisch gab es 1957 noch nicht. Solche Lernangebote werden gerade auch von muslimischen Jugendlichen sehr gern angenommen.

Als die Geschwister Schermall jung waren, gingen sie wirklich nur zum Vergnügen in die Bibliothek, freuten sich an Attraktionen wie dem großen Globus oder dem Aquarium und suchten sich Unterhaltungslektüre aus. Drei Bücher in der Woche waren schon zu schaffen. Ablenkung in Gestalt von Computern oder Fernsehern kannten sie damals noch nicht. Einzige Konkurrenz zum gedruckten Wort war das Radio. Birgit Simon, die heute als Lesepatin ehrenamtlich mit Schulkindern arbeitet, hat beobachtet, dass viele Worte gar nicht mehr verstanden werden, "Tümpel" zum Beispiel oder "Sumpf".

Eine umfassende Sammlung alter Kinderbücher hilft, dass Worte nicht einfach verloren gehen

Karin Gröning, die stellvertretende Leiterin der Kinder- und Jugendbibliothek, fahndet selbst auf Flohmärkten nach seltenen Exemplaren, manchmal gibt es auch Schenkungen. "Das älteste Kinderbuch ist von 1595", erzählt der langjährige Leiter der Kinderbibliothek, Otto Jagla. Es heißt "Von Fröschen und Mäusen". Manchmal kommen Besucher aus dem Ausland auf der Suche nach den Lieblingsbüchern ihrer Kindheit aus den 50er und 60er Jahren vorbei. Meistens kann ihnen geholfen werden.

An Harry Potter war damals noch nicht zu denken, davon besitzt die Biblithek neun Exemplare pro Band, einige natürlich auch auf Englisch. Auch die Tintenherz-Trilogie von Cornelia Funke ist heute sehr gefragt. Nach wie vor ist die US-Botschaft engagiert, schließlich war die Bibliothek ein Geschenk des amerikanischen Volkes und wurde ursprünglich als "Symbol für Bildungs- und Meinungsfreiheit" eröffnet. Auf alten Bildern sieht man noch Kinder, die große Carepakete voller Bücher auspacken.

Am 16. November wird der runde Geburtstag mit einem Festakt gefeiert, aber lustiger wird es sicher beim großen Aktionstag für alle am 17. November. Ab 11:30 Uhr gibt es Quiz, Basteln, Schminken und zwischen 13 und 14 Uhr einen großen Kostümwettbewerb, bei dem alle Kinder aufgerufen sind, sich als ihre Lieblingskinderbuchfigur zu verkleiden. Pippis und Harrys werden vermutlich reichlich vorhanden sein. Ob auch Lederstrümpfe und Nesthäkchen kommen?

Auch die Geschwister Schermall werden dabei sein. Für sie war die Bibliothek Ausgangspunkt für Fantasiereisen in alle Welt, ein Ort, den sie geliebt haben.

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