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Anonyma - Eine Frau in Berlin: Schutz bei Anatol

Der Film „Anonyma – Eine Frau in Berlin“ hat einen Vorgänger: Max Frischs „Als der Krieg zu Ende war“

So wie Gitta erging es im Mai 1945 vielen Frauen in Berlin: „Ihrer sind fünf in den Keller gekommen, und wie sie sich wehrt, nehmen sie einfach das Messer. Um ihr die Hose aufzuschneiden, verstehst du. Weil sie den Reißverschluss nicht verstehen. Was soll sie schon machen? Gegen fünf Betrunkene. (...) Nachher kommt der Offizier, wenigstens einer, der nicht betrunken ist. Als Gitta ihm zeigt und zwar deutlich, was geschehen ist, als sie es ihm unter die Nase hält: bitte – natürlich schickt er die Soldaten hinaus ... nun ja, und er ist der Sechste.“

Das ist kein Zeitdokument, vielmehr eine Textprobe aus Max Frischs „Als der Krieg zu Ende war“, uraufgeführt am 8. Januar 1949 am Schauspielhaus Zürich, später auch in Westdeutschland gezeigt, aber nie in Berlin, dem Ort der Handlung. Für den Autor gehörte das Stück zur „Gattung der historischen Stücke“, beanspruchte also geschichtliche Wahrheit, die ihm auch kaum abzusprechen ist. Mehr noch, „Als der Krieg zu Ende war“ erscheint bis in Handlungsparallelen hinein wie eine Vorwegnahme des erstmals 1954 veröffentlichten Tagebuches „Anonyma – Eine Frau in Berlin“. Vor fünf Jahren wurde es vom Eichborn Verlag wiederaufgelegt und jetzt von Max Färberböck verfilmt, mit Nina Hoss in der Hauptrolle. Am 15. Oktober wird im Kino International die deutsche Premiere gefeiert, am 23. Oktober kommt „Anonyma – Eine Frau in Berlin“ in die Kinos.

In ihrem Tagebuch schildert die anonyme Autorin das Schicksal der Frauen in den ersten Wochen der Besetzung Berlins durch die Rote Armee. Auch sie wurde Opfer der Massenvergewaltigungen. Anfangs ein hilfloses, erniedrigtes Objekt, beschreibt sie präzise die brutalen Taten und ihre Reaktion: „Erstarrung. Nicht Ekel, bloß Kälte. Das Rückgrat gefriert, eisige Schwindel kreisen um den Hinterkopf.“ Dann aber ergreift sie die Initiative: „Hier muss ein Wolf her, der mir die Wölfe vom Leib hält. Offizier, so hoch es geht, Kommandant, General, was ich kriegen kann.“ Bald hat sie einen Beschützer gefunden, Anatol heißt er, Oberleutnant, „ein Besternter“ also, und für einige Tage funktioniert ihr Plan, ja, sie beginnt sogar Sympathie für ihren Offizier zu entwickeln. Aber dann zieht er weiter, und sie muss sich einen neuen Leitwolf suchen, nun schon einen kultivierten Major, muss sich prostituieren, um nicht erneut Opfer der wahllosen Vergewaltigungen zu werden. Immerhin, bald mag sie ihn, „mag ihn um so mehr als Menschen, je weniger er als Mann von mir will“.

Auch Frisch hatte den Handlungskern seines Stückes, die Beziehung zwischen einer Deutschen und einem russischen Offizier, nicht erfunden. Selbst miterlebt hat er die „sogenannte Russenzeit“ nicht, erst im November 1947 reiste er nach Berlin und beschrieb dies später in seinem „Tagebuch 1946–1949“. Ein Labyrinth aus Lebensschutthaufen stellte sich ihm entgegen, Bausteine, aus denen er ein Jahr später sein Drama entwarf. Die deutschen Schicksale seien „übernommen aus den Erzählungen deutscher Freunde in Berlin“, betont er im Nachwort, zielt damit auf die mehrfache Vergewaltigung der Figur Gitta, auf das Schicksal des jahrelang untergetauchten Günther, der beim Einmarsch der Russen begeistert auf die Straße läuft und erschlagen wird, oder auch auf das des vierjährigen Martin, der auf der Flucht durch die nächtliche Trümmerstadt in einen Schacht fällt und erst sechs Wochen später entdeckt wird – verhungert.

Als Quelle der Haupthandlung gibt Frisch im Tagebuch einen US-Offizier namens Frank an, bei dem er während seines Berlin-Besuchs wohnte: Sowjetische Soldaten haben im Mai 1945 auch eine Villa im Berliner Westen besetzt, feiern oben ihren Sieg, während sich im Keller die Bewohner verstecken, eine junge Frau und ihr Mann, ein aus der Gefangenschaft geflohener Wehrmachtsoffizier. Irgendwann entdeckt ein Russe die Frau, fordert sie auf, nach oben zu kommen, doch, auch der Kommandant verstehe deutsch, und so wagt sie das Unwahrscheinliche, kleidet sich als große Dame, will den vermeintlich gebildeten Offizier durch Worte bezwingen.

Es gelingt ihr, ihn allein zu sprechen. Sie bittet um ihr Leben und anständige Behandlung, gibt vor seinem Schweigen immer mehr preis, muss schließlich erkennen, dass der Oberst kein Wort versteht. Als letzte Ausflucht – der Offiziersbursche ist wieder gerufen worden – macht sie ein „verzweifeltes Angebot: Wenn er alle anderen aus dem Hause schickt, und zwar für immer, wird sie ihm zu Willen sein, sagt sie etwas verborgen, jeden Tag zu einer bestimmten Stunde.“ Eine unwahrscheinliche, aber offenbar authentische Geschichte, die drei Wochen gedauert haben soll, und „mit der Zeit (der Bericht ist sehr sprunghaft) hat sich offenbar eine Liebe ergeben, die auch gelebt wird. Ohne Sprache“. Sie endet, als der Oberst die Stadt plötzlich verlassen muss. Das Drama folgt weitgehend der Tagebuchskizze. Frisch hat die Handlung präziser lokalisiert, in einer Zehlendorfer Villa, erwähnt ist auch ein Ausflug des Liebespaares zum Schlachtensee samt Bootstour auf dem Wannsee. Und der Stoff wurde historisch zugespitzt. Der Offiziersbursche wird nun zum Überlebenden des Warschauer Ghettos, der Wehrmachtsoffizier zu einem der Schlächter, die an der Niederschlagung des Aufstandes beteiligt waren. An ihm scheitert Agnes’ Liebe zu Stepan, als er in ein Treffen der beiden hineinplatzt und der Russe im Glauben, er sei betrogen worden, das Haus verlässt.

Auch wenn die Parallelen zwischen dem Frisch- und dem Anonyma-Stoff offensichtlich sind, gibt es doch keinen Hinweis, dass es sich um dieselbe Personen handelt. Möglich ist es, dass das Schicksal der Autorin zu den Geschichten gehörte, die damals durch die Stadt liefen und auf Umwegen auch zu dem Besucher aus der Schweiz gelangten. Wahrscheinlicher aber gab es damals selbst vor dem düsteren Hintergrund der Massenvergewaltigungen mehr als nur eine Ausnahme. Parallele Geschichten also, in denen sich, wie bei „Anonyma“, eine Art Sympathie der Frauen für ihren Beschützer entwickelte, oder gar, wie bei Frisch, eine Liebe – trotz der Zwangslage, aus der diese Beziehung entstanden war.

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