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armut berlin

© Dropping Knowledge

Dokumentation: Armutszeugnisse

Eine Initiative dokumentiert die Schattenseiten Berlins. Die Ergebnisse sind nun in einem Film zu sehen.

Als der Heroinabhängige die Spritze ansetzte, hat Tom Beyr auf den Auslöser seiner Kamera gedrückt. Jedes Detail dieses intimen Momentes wollte er festhalten, den Gesichtsausdruck, das Blut in der Spritze, die Entspannung nach dem Schuss. „Innerlich war ich total gestresst“, sagt der 30-jährige Österreicher. Wie ein Werkzeug kam er sich vor, das in diesen Momenten einfach funktionierte. Als er während der Fotosession aus dem Fenster blickte, prallten für Beyr zwei Welten aufeinander. „Drinnen eine Höhle und draußen Blumen gießen. Ich wollte schreien, so irre war das.“

Seit drei Monaten lebt der Salzburger Student in Berlin und arbeitet mit 29 Kommilitonen an dem Projekt „Schatten auf Berlin“, das von der Initiative Dropping Knowledge angeregt wurde. Dropping Knowledge wurde 2003 mit Büros in Berlin und den USA als Reaktion auf die Berichterstattung über den Irakkrieg gegründet. Die Initiatoren wollten einen globalen Dialog der Protestbewegungen ermöglichen. Auf ihrer Internetseite sammeln sie Fragen aus den Bereichen Politik, Wirtschaft, Umwelt, Selbstreflexion.

Für „Schatten aus Berlin“ untersucht die Initiative soziale Missstände und das Außenseiterleben in der Hauptstadt. Im Geiste der historischen „Großstadt-Dokumente“ , einer um die Jahrhundertwende entstandenen Sammlung aus Reportagen und Studien des Ethnografen Hans Ostwald, zeichnet das Projekt eine Momentaufnahme der dunklen Seite Berlins. Filmemacher, Fotografen und Autoren haben dafür drei Monaten lang Menschen gesucht, die ihre persönliche Geschichte erzählen und die Extreme zeigen. Entstanden ist eine Fragmentsammlung über den Zustand Berlins, von Überlebenskünstlern, Obdachlosen, Flaschensammlern, Prostituierten, Jugendgangs, Fixern am Kottbusser Tor und Bohemiens.

Am morgigen Sonntag sollen die Ergebnisse im Kino Babylon in Berlin-Mitte präsentiert werden. Die Veranstaltung ist auch die Einladung zu einem Dialog, der mit Filmen, Fotografien, Diskussionsrunden eröffnet wird. Für Ralf Schmerberg, den Initiator und Vorsitzenden von Dropping Knowledge, ist das Projekt die Chance, einen freien Blick auf Dinge zu werfen, die viele Menschen lieber meiden. Über Themen, die oft nur vom Boulevard behandelt werden, möchte er einen offenen Dialog anregen und Berührungsängste überwinden.

Das Projekt „Schatten auf Berlin“ versuche einen Raum für Lebenswege zu schaffen, Leute anzutippen, damit sie den Dialog weitertragen, in die Medien und den privaten Bereich, wie Schmerberg sagt. „Die Bilder mit den stärksten Wirkungen werden in den Fokus gesetzt, jene, die wütend machen oder zum Nachdenken anregen“, sagt Schmerberg. Einen Erfolg sieht der Werber und Filmemacher, wenn es Studenten gelungen ist, tiefer in Themen einzudringen, sich intensiver mit der Thematik auseinanderzusetzen.

Das Starren, hat der amerikanische Fotograf Walker Evans einmal gesagt, sei das wirkungsvollste Instrument, Armut zu verstehen. Je mehr man starre, desto eher werden die Vorurteile und Annahmen neu geordnet, desto eher sei man in der Lage eigene Annahmen zu hinterfragen.

Natürlich hat sich Tom Beyr während der Arbeit die Frage nach der Sensationslust gestellt. Als er mit den Aufnahmen des Heroinabhängigen zurück ins Büro am Prenzlauer Berg kam, staunen die anderen Studenten, wie er es geschafft hatte, eine so dreckige Wohnung zu finden. Für Beyr war das Foto ein Erfolg, weil er nach diesem Extrem gesucht hatte. „Es war auch ein wenig Scham und Ekel vor sich selbst dabei. Es ist, als ob man sich am Elend aufgeilt“, sagt er. Dennoch ist er von der Bedeutung überzeugt, mit offenen Augen durch die Stadt zu laufen und außergewöhnliche Lebensgeschichten zu akzeptieren. „Diese Leute denken, dass sich niemand für sie interessiert“, sagt Beyr. „Aber alle haben eine Geschichte zu erzählen.“

Sonntag, 23. September 2007 Kino Babylon Berlin am Rosa-Luxemburg-Platz, Einlass: 19.30 Uhr, Beginn: 21 Uhr. Weitere Informationen unter: www.droppingknowledge.org oder www.schattenaufberlin.de

Alexander Glodzinski

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