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Stadtleben: Auf die Narren gespannt

Heute zieht der Karnevals-Zug durch die City West. Eine Million Zuschauer werden erwartet – und gleich 15 Prinzenpaare

Auf dem Tisch liegen grün-gelbe Zottel-Perücken, daneben Bob-Marley-Mützen, rote Teufel-Hörnchen, glitzernde Trillerpfeifen. Manch einer bleibt stehen, kramt in dem bunten Allerlei und schiebt sich erst verstohlen, dann tapfer eine Clownsnase über die eigene. „Die Leute kaufen hier schon einiges“, sagt Amely Kunst. Am heutigen Sonntag will die 22-Jährige ihren Stand vor der Gedächtniskirche besonders früh öffnen – damit sich auch die letzten noch schnell eine Verkleidung aussuchen können. Schließlich geht kurz vor Mittag der Zug los: Eigentlich war 11.11 Uhr geplant, jetzt ist der Start auf 11.44 Uhr verlegt. Vom Steinplatz aus geht es zunächst über die Hardenbergstraße in Richtung Breitscheidplatz (siehe Grafik).

Seit einigen Jahren schon entdeckt der Berliner das Narr-Sein für sich. Zwar gibt es hier keine Tradition wie im Rheinland, sagt Harald Grunert, Vorsitzender des Berliner Karnevalszuges und Betreiber der „Ständigen Vertretung“, der Anlaufstelle für Bonner Exilanten und Kölsch- Liebhaber. „Aber in Berlin entsteht etwas Eigenes, das braucht nur noch etwas Zeit, um sich zu etablieren.“ Zum Beispiel verkleide sich der Berliner anders als der typische West-Karnevalist – nämlich „viel individueller und auch spontaner“. So kann es passieren, dass neben den Wagen ein Harry Potter mit Elfenohren, ein Moorgeist oder ein Cowboy mit rosa Glitzer am Hut um Kamelle bittet.

Übrigens: Wer heute am Kurfürstendamm mitfeiere, sei kein Tourist, sondern höchstwahrscheinlich ein echter Berliner – meist mit Familie, sagt Grunert. „Unser Karneval ist ein Familienfest und eine absolute Ost-West-Veranstaltung“, freut sich der Vorsitzende. Soll heißen: Die Besucher kommen inzwischen aus allen Bezirken.

Natürlich gibt es die Wagenengel, Tanzmariechen und jede Menge Bonbons. So wie im Rheinland. Aber die reich geschmückten Transporter – 60 Stück aus Berlin und Brandenburg, einer aus Köln – sind nicht ganz so aufwändig wie im Ursprungsland der Jecken.

Außerden wird es nur einen politischen Motto-Wagen geben, der die regierende Elite auf die Schippe nimmt. Wer die geschminkten Augen weit aufmacht, wird ihn entdecken. Zugmarschall Rolf Vieting spricht von einem „wohlbehüteten Geheimnis“: „Das soll eine große Überraschung sein.“ Ein weiterer Höhepunkt ist der Auftritt des Prinzenpaares. In Berlin gibt es davon gleich 15, so viele Vereine haben dieses Jahr eigene Prinzen gekürt. Und noch eine gute Nachricht: Es soll heute trocken bleiben – jedenfalls die meiste Zeit.

Dass sich eine Million Zuschauer schnell mit neuen Gegebenheiten zurecht finden, zeigt sich auch anhand der neuen Zugstrecke – seit zwei Jahren rollen die Karnevalszüge nicht mehr unter den Linden entlang, sondern durch Charlottenburg. „Am Brandenburger Tor wurde es einfach zu eng. Die vielen Baustellen ließen uns nicht mehr durch“, erklärt Harald Grunert.

Für den Umzug gilt: Wer viele Bonbons auffangen will, sollte sich eine Tasche mitnehmen. Experte Grunert rät allerdings vom Schirmaufspannen ab, denn „dann kriegen die Kinder nichts ab, weil alle Erwachsenen viel größer sind. Das ist gemein.“ Bester Platz für tolle Aussichten ist der Breitscheidplatz, hier kommt der Karnevalszug gleich zweimal vorbei. Und sonst? „ Kostümierung ist natürlich Pflicht! Der Fantasie sind keine Grenzen gesetzt“, sagt Grunert. Wer also immer schon einmal als Blumenwiese oder Überraschungsei gehen wollte: Gelegenheit macht Narren.

Liva Haensel

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