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Babylon

© David Heerde

Babylon: Kino auf Zeitreise

Das Babylon in Mitte wird 80. Rudolf Rosenberg kennt es wie sonst keiner: Er war schon drin, als der Eintritt noch 25 Pfennig kostete.

Ein Knopfdruck, und ganz langsam erscheint die Vergangenheit im Babylon: Wenn man den Vorhang und die moderne Leinwand beiseite fährt, wird dahinter ein halbkreisförmiger Raum sichtbar – mit goldgerahmter Stummfilmleinwand, wie sie schon damals im Babylon in Mitte hing, vor genau 80 Jahren, als das Kino eröffnet wurde: am 11. April 1929.

Geschäftsführer Timothy Grossman blickt stolz von der Empore aus in den Saal: „Auf der Bühne vor der Leinwand wurde Kleinkunst aufgeführt. Was genau – das kann ich nur raten, aber Swing und jiddische Lieder wurden bestimmt gespielt.“ Deshalb wird beides auch am heutigen Sonnabend bei der Geburtstagsfeier zu hören sein: Der Klezmersänger Mark Aizikovitch tritt mit Andrej Hermlins Swing-Band auf.

Neben Grossman auf der Empore sitzt ein älterer Herr mit Glatze und freundlichen Augen, er wirkt ein bisschen abwesend: Rudolf Rosenbergs Gedanken reisen gerade durch die Zeit. Das Babylon war ein wichtiger Teil der Kindheit des 84-Jährigen, er wuchs gleich um die Ecke im Scheunenviertel auf. Der Sänger Aizikovitch wusste davon und hat den Kontakt zwischen Grossman und Rosenberg hergestellt.

„Wie viel hat denn damals der Eintritt gekostet?“, möchte der Geschäftsführer von seinem Besucher wissen. 25 Pfennig, das weiß Rosenberg noch genau. An die Eröffnung und die ersten Stummfilme kann er sich nicht mehr erinnern. Aber die wurden auch schon kurz darauf von Tonfilmen abgelöst. Die damals hochmoderne Stummfilmorgel ging erst mal außer Betrieb. Heute steht sie wieder vor der Leinwand und erklingt, wenn jeden zweiten Dienstag Stummfilme über die Leinwand flackern. „Wir sind das einzige Original-Stummfilmkino in Berlin, das noch funktioniert.“

Rosenberg wohnt heute in Schmargendorf und geht kaum noch ins Kino. Aber als kleiner Junge war das anders: „Ich weiß gar nicht, wie oft ich Emil und die Detektive gesehen habe“, sagt der emeritierte Universitätsdozent. Seine Eltern arbeiteten beide in der Schneiderwerkstatt des Vaters und hatten keine Zeit für ihn. Und so wurden die vielen Lichtspieltheater der Gegend eine Art zweites Zuhause für ihn. „Es gab auch viele Kinos, in denen die Penner ihre Tage verbrachten, aber das Babylon war schon etwas Vornehmes und Teures, wenn auch nicht so teuer wie der Ufa-Palast am Alexanderplatz.“ Abends durften Kinder nicht ins Babylon. „Die waren strenger als in den anderen Kinos.“

Wenn er nicht im Kino saß, fuhr der Junge mit seinem Roller durch die Gegend – auch an jenem Tag im August 1931, als der Mord vor dem Kino geschah. Rosenberg hat die Geschichte schon so oft erzählt. Und jetzt passt es mal wieder besonders gut. Gemeinsam mit Grossman steht er nämlich inzwischen vor dem Kino, dessen Fassade – entworfen vom Architekten Hans Poelzig – sich in den acht Jahrzehnten kaum verändert hat. „Als ich den ersten Schuss hörte, habe ich mich sofort da hinten im Hausflur versteckt“, sagt Rosenberg und zeigt auf ein Gebäude an der Rosa-Luxemburg-Straße. „Von da aus habe ich dann gesehen, wie die Polizisten gestorben sind. Schweinebacke hatten wir den einen immer genannt.“ Es war ein politischer Mord, begangen von Kommunisten. „Die Täter flohen wahrscheinlich ins Babylon“, ergänzt Grossman, der auch einiges über die Geschichte des Kinos weiß – auch wenn er damals nicht selbst dabei war. Das Lichtspielhaus sei für 24 Stunden von der Polizei abgeriegelt worden. Erst 60 Jahre später stand der vermutete Täter vor Gericht: Erich Mielke. Auch 1934 rollerte Rosenberg wieder einmal am Kino vorbei. Der Platz nebenan, der heute nach Rosa Luxemburg benannt ist, war da grade von „Bülowplatz“ in „Horst-Wessel-Platz“ umgetauft worden. Passend zum neuen Namen stand da „Doktor Joseph Goebbels und weihte gerade ein Denkmal für die beiden Polizisten ein“, sagt Rosenberg.

„Das Babylon ist Berlin“, sagt Grossman gern ein bisschen pathetisch. Weil im und um das Kino so viel passiert sei – „komprimierte Geschichte“, sagt er. Während der NS-Zeit war eine jüdische Familie hinter der Leinwand versteckt, während im Saal NSDAP-Mitglieder Ufa-Filme sahen. Und 1934 wurde der Filmvorführer Rudolf Lunau verhaftet, weil er im Kino Flugblätter für den kommunistischen Widerstand gedruckt hatte. Im Foyer, das ebenfalls noch fast genauso aussieht wie damals, hängt eine Gedenktafel für ihn. „Die stammt bestimmt aus DDR-Zeiten“, sagt Rosenberg und lacht. „Das ist so die Ästhetik.“ Grossman nickt.

Von 1938 an war Juden der Zutritt zum Kino verboten. Rosenberg war damals schon nicht mehr in Berlin – 1935 war die jüdische Familie in die Sowjetunion geflohen. Erst 1993 zog Rosenberg wieder zurück.

Und so verpasste er alles, was in der Zwischenzeit im Babylon geschah: Etwa dass die bekannten Leuchtbuchstaben im Krieg zerstört und erst viele Jahre später wieder dort angebracht wurden. „Die Mörder sind unter uns“, der erste deutsche Spielfilm der Nachkriegsgeschichte, wurde gezeigt. Und später wurde das Haus zum Premierenkino für sowjetische und DEFA-Filme. Für die Uraufführung des Märchens „Der kleine Muck“ war die Fassade als Moschee verkleidet, erzählt Grossman. Das war in den Fünfzigern.

Später liefen hier viele Filme, die sonst nicht in Ostberlin gezeigt wurden, erinnert sich Grossman. „1976 war ich mit 14 zum ersten Mal allein im Kino. Und zwar im Babylon.“ Ein spektakuläres Ereignis der Achtziger sei ein Punkkonzert gewesen, bei dem die Empore fast unter dem Stampfen der Fans eingestürzt sei. Danach wurde sie verkleinert.

Auch die Decke des großen Saals wäre ein paar Jahre später beinahe zusammengekracht. „Sechs Jahre war der Saal geschlossen“, sagt Grossman. Die Filme wurden so lange im Foyer gezeigt. 2001 war das Kino wieder in vorzeigbarem Zustand, und doch lief es nicht gut. Das Programm sei damals zu einseitig gewesen, sagt Grossman. Als er 2005 Geschäftsführer geworden sei, habe er das geändert und das Haus für Lesungen, Festivals, Konzerte und Theater geöffnet.

Etwa 80 Filme werden hier im Monat gezeigt, 120 000 Besucher kommen pro Jahr. „Kommen Sie doch auch mal wieder“, fordert er Rudolf Rosenberg auf. Und natürlich, ohne Eintritt zu zahlen. Der kleine Kino-Fan Rudolf hätte sich mit einer Ehrenrunde auf dem Roller bedankt. Der alte Herr Rosenberg nickt bedächtig. Vielleicht, sagt er. Aber eigentlich ist es ihm von Schmargendorf aus ein bisschen zu weit.

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