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Berlin in der Nacht: Es ist nie zu: Späti

Er ist immer da, wenn uns etwas fehlt. Er hilft in Notlagen. Wäre Großstadtleben ohne Späti überhaupt möglich? Eine Hymne auf eine Berliner Errungenschaft

Wie soll einem diese Schönheit auch auffallen, im Alltag. Man ist ja ständig in Bewegung: entweder rein und wieder raus oder gleich dran vorbei. Stehen bleiben ist nicht. Wie gut, dass es einen wie Daniel Gregor gibt. Vor fünf Monaten hat er den ersten fotografiert. Das war in Friedrichshain in der Kopernikusstraße. Die Wände drumrum mit Graffiti besprüht, rechts Schuhladen, links Kunsthandwerkskram. Die sieht man aber nicht auf dem Foto, man sieht bloß: zwei Glasfenster und eine Eingangstür, oben drüber die leuchtende gelbe Werbetafel. Dazu gleich zwei Schriftzüge „Coffee to go“, einmal aufgedruckt, einmal in Neonleuchtröhrenschrift. Passende Werbung für jede Tageszeit. Auch die Spielregeln zum Betreten des Ladens sind auf Stickern nachzulesen: Hunde verboten, Rauchen verboten, und ganz wichtig: Da drin gibt’s Kameraüberwachung!

Daniel Gregor war von seinem Fotomotiv angetan, hinterher beim Betrachten auf dem Computerbildschirm sogar begeistert. Danach ist er immer wieder losgezogen, mit seiner Nikon-Spiegelreflex, Modell D800. Manchmal nach Prenzlauer Berg, manchmal nach Neukölln, auch durch Lichtenberg, wo er wohnt. Inzwischen hat Gregor fast 180 Läden aufgesucht. Die Bilder stellt er nach und nach ins Internet, und wer sie anschaut, staunt: Spätis sind anmutig, ja glamourös. Ein bisschen Las Vegas in Berliner Seitenstraßen. Weil Daniel Gregor stets darauf achtet, dass keine Menschen auf den Bildern zu sehen sind, wirken die Aufnahmen sonderbar verwunschen.
Fassbrause, Feuerzeug, Rotwein, Zahnpasta.

Offiziell heißen sie ja Spätverkaufsstellen. In den neunziger Jahren, als es immer mehr wurden und sie begannen, das Stadtbild zu prägen, nannte man sie auch tatsächlich noch in der Langversion. Heute ist die Abkürzung so normal, wie Kaufhof oder KaDeWe zu sagen.

Im Innern bleiben sie hässliche Orte

Wie viele es gibt, ist nicht klar und auch nicht klärbar, denn die meisten sind gar nicht als solche angemeldet. Schätzungen zufolge haben jede Nacht stadtweit rund 1000 von ihnen geöffnet. Wer auf der speziell für Berlin eingerichteten Seite www.spätifinder.de sucht, auf der Nutzer ihnen bekannte Geschäfte eingetragen haben, erkennt deutliche Ballungen an nachtlebenrelevanten Verkehrsknotenpunkten wie dem Mehringdamm, rund ums Schlesische Tor, am Frankfurter Tor, entlang der Schönhauser Allee. Wirtschaftsförderer würden sagen: Das sind Späti-Cluster.
Schokoriegel, Billigwodka, Club Mate, Kippen.
In ihrem Inneren bleiben Spätis hässliche Orte. Da könnten Fotografen mit noch so viel Langzeitbelichtung arbeiten, da würde selbst Daniel Gregor scheitern. Karg bis gar nicht dekoriert sind sie, das einzige Bling-Bling die runden Spiegel an der Decke, die den Verkäufer von der Kasse aus in alle Ecken schauen lassen. Hängt an der Wand mal ein Poster, ist es Telefonkartenwerbung. Wobei behängbare Wände in der Logik des Späti-Kosmos aber sowieso Platzverschwendung sind, da kann man doch Regale hinbauen und Waschpulver oder H-Milch reinstellen. Verbreitet scheint auch die Strategie, überflüssige Quadratmeter in der Raummitte durch Hinstapeln von Bierkästen zu füllen. Es kann kein Zufall sein, dass Späti und schäbig so ähnlich klingen.
Cola, Tampons, Zeitschriften, Tierfutter.
Gewagte These: Praktisch jeder Berliner besitzt einen Lieblingsspäti. Bloß ist das längst nicht jedem bewusst. Weil sich die Bindung zum Laden des Vertrauens langsam und schleichend aufbaut. Man kauft einmal, zweimal, dreimal ein, und irgendwann stellt man fest, dass man schon genau weiß, wo die Cola zum Wachwerden steht oder die Cornflakes-Packung fürs Frühstück am nächsten Morgen. Dass man den Typen an der Kasse ganz sympathisch findet. Dass der einen vielleicht sogar wiedererkennt und grüßt. Dann ahnt man womöglich, dass der Späti Teil des eigenen Koordinatensystems geworden ist.

Sie wenden Notlagen ab

Die enge Bindung entsteht auch dadurch, dass der Späti immer da ist, wenn man ihn braucht. Unsere Kühlschränke und Badezimmer sind wie unser Großstadtleben: Ständig fehlt was. Immerzu hätte man gern, bräuchte man jetzt aber ganz dringend etwas, das vergessen wurde zu besorgen. Spätis helfen dem Einzelnen (wenn etwa Klopapier fehlt) und ganzen Gruppen (wenn auf Partys das Bier ausgeht). Spätis wenden Notlagen ab und unterstützen uns, über die Runden zu kommen.
Salzstangen, Rum, Apfelmus, Sterni.
Und dann erst die tollen Leute, die man drinnen trifft: Lebenslustige, Gemütliche, Gehetzte, Druffis und Verpeilte. Jugendliche, die sich ereifern, welches Bier denn am billigsten und trotzdem halbwegs genießbar ist. Die Schmerzfreien landen bei „Sternburg“ oder „Pilsator“ für 80 Cent. Plus die Verkäufer, von herzlich bis kauzig. Manche lassen es sich nicht nehmen, jede verkaufte Bierflasche persönlich zu öffnen. Manche sind so mit dem Starren auf ihre Laptopbildschirme beschäftigt, dass man meint, man könnte den ganzen Laden ausrauben, ohne dass die es mitbekämen.

Gin, Kaugummi, Rasierschaum, Red Bull.
Die Nacht hat drei Phasen, in denen es sich lohnt, einen Späti aufzusuchen: Da ist der Moment, gleich nachdem man das Haus verlassen hat und das Abenteuer beginnt. Dann der Moment, wenn man erschöpft zurück nach Hause kommt, nur noch kurz was mitnehmen will in die Wohnung. Und der dazwischen, wenn man nachts unterwegs ist von einem Ziel zum anderen, von der Kneipe zur Privatparty, vom Kino in den Club.
Ausgerechnet Daniel Gregor, der Fotograf, ist kein regelmäßiger Späti-Kunde. Das liege daran, dass er selbst äußerst selten Bier auf der Straße trinke, mit dieser Tradition habe er sich nie anfreunden können, sagt er. Wenn Daniel Gregor in den Späti geht, dann meistens, um sich Wasser oder Zigaretten zu kaufen. Früher holte er auch mal Nudeln oder Klopapier, aus Verzweiflung. Das habe jedoch stark nachgelassen, seitdem er mit seiner Freundin zusammenlebe.
Sekt, Bifi, Kaffeepulver, Cornflakes.

Ein Ami dichtet

Auch bei Berlin-Touristen hinterlassen Spätis Eindruck. Dabei ist es nicht die pure Existenz von Nachtverkaufstellen, sondern deren Ballung, die Fremde überrascht. Der US-amerikanische Reiseblogger Adam Groffman war derart angetan, dass er eine Liebeserklärung in Gedichtform versucht hat. Kleiner Auszug: „Sometimes we visit quick, one euro twenty, click click. Taking a Kindl, a Sterni, Where else would I be?“ Dazu sollte man wissen, dass Adam Groffman vor seinem Berlin-Aufenthalt praktisch einmal um die ganze Welt getourt ist, er war in Indien und Neuseeland und Thailand und Mexiko. An all diesen Orten hat ihn nichts gedrängt, Gedichte zu schreiben.
Glühlampen, Traubenzucker, Kakao, Kondome.
Es gibt Menschen, die behaupten: Die Existenz des Geschäftsmodells Späti ist in Gefahr. Das liegt an einem Gerichtsurteil, das ausgerechnet ein Späti-Betreiber aus Prenzlauer Berg provoziert hat, der eigentlich das Gegenteil erreichen wollte: dass er nämlich uneingeschränkt und immer verkaufen darf, speziell auch in der Walpurgisnacht zum 1. Mai. Die Polizei hatte ihm genau dies verboten, weil sein Laden nah am Mauerpark liegt und dort traditionell Ausschreitungen gefürchtet werden. Also zog der Geschäftsmann vors Berliner Oberverwaltungsgerichts – und kassierte ein Urteil, das zumindest theoretisch alle Späti-Betreiber betrifft: Das Gericht stellte fest, die gängige Praxis der Spätis, auch am Sonntag zu verkaufen, sei grundsätzlich illegal, ausgenommen sind Brötchen, Milch, Zeitschriften. Verkauft werden darf in Berlin montags bis sonnabends von 0 Uhr bis Mitternacht, außerdem an zehn Sonntagen pro Jahr. So liberale Ladenöffnungszeiten hat kein anderes Bundesland.
Das Urteil muss in der Praxis keine Konsequenzen haben, solange alle stillhalten und sich niemand beschwert. Die Ordnungsamtchefs mehrerer Bezirke ließen bald durchblicken, dass ihre Mitarbeiter sowieso überlastet seien und weiß Gott Besseres zu tun hätten, als sonntags Spätverkäufer zu jagen. Das ändert sich in dem Moment, in dem ein Dritter Anzeige stellt. In Prenzlauer Berg ist das wiederholt passiert, mehrere Späti-Verkäufer mussten vierstellige Ordnungsgelder zahlen und sehen sich in ihrer Existenz bedroht. Denn sie sind auf den Sonntagsverkauf angewiesen. Der Umsatz an den übrigen sechs Tagen reicht nicht aus, vor allem deshalb, weil unter der Woche immer mehr Supermärkte bis Mitternacht geöffnet haben.

Das Gesetz kam nie zustande

Die SPD-Fraktion im Abgeordnetenhaus überlegte, das Ladenöffnungsgesetz zu liberalisieren, um den Fortbestand der Spätis zu sichern. Sogar Kirchenvertreter ließen durchblicken, sie würden im Falle einer Reform nicht klagen. Das Gesetz kam nie zustande, auch weil Konkurrenten aus dem Einzelhandel vor Gericht gezogen wären.
Sicher: Der Späti ist eine Berliner Errungenschaft. Aber es wäre falsch, nur das Positive zu sehen. Es gibt Betreiber, die ihre Angestellten ausbeuten, mit Niedrigstlöhnen ohne Nachtzuschläge abspeisen und 60 Stunden Einsatz pro Woche verlangen. Und es gibt die Betreiber, die sich selbst ausbeuten, weil sie sich keine Mitarbeiter leisten können. Auch deshalb passt der Späti, so traurig das klingt, wahnsinnig gut zu Berlin: fantasiereich prekär leben und den Arbeitnehmerschutz umgehen.
Filter, Windeln, Müsliriegel, Chips.
Fotograf Daniel Gregor hat nicht vor, alle geschätzten 1000 Spätis einzeln aufzusuchen und zu dokumentieren. Irgendwann muss Schluss sein, sagt er, und selbst wenn er es doch probierte: Sobald er alle Adressen durch hat, haben die ersten Läden schon wieder geschlossen und dafür neue aufgemacht. Stattdessen überlegt er sich, ob er vielleicht seine bisherigen Aufnahmen zu einem Bildband zusammenfasst oder in der Galerie ausstellt.

Seit vergangenem Jahr findet man in der Stadt immer mehr Spätis mit Sitzgelegenheiten vor der Tür. Die sind für Menschen gedacht, die mit ihrem Bier nicht auf der Straße rumstehen oder sich beim Trinken unterwegs das Hemd vollschlabbern wollen. Natürlich sind das keine Designermöbel, sondern Holzbänke, auf deren Platten der Lack abblättert. Müssen ja zur Gesamtanmutung passen. Man muss schließlich „Lass uns noch ein Bier zischen“ sagen können, ohne sich unwohl zu fühlen. Der jüngste Trend ist die Späti-Tour: Kleinere Gruppen ziehen abends durch die Stadt, ohne jemals eine Kneipe oder einen Club erreichen zu wollen. Der Späti ist das Ziel, und wenn sie dort gewesen sind, ziehen sie weiter zum nächsten. Es ist nie ein langer Weg.

Alle Bilder des Fotografen kann man sich auf www.danielgregor.com ansehen.

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