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Die Potsdamer Chaussee wird gesäumt von Alleebäumen, es durchzieht sie ein breiter Mittelstreifen. Sie ist Berlins prächtigste und grünste Ausfallstraße.

© Thilo Rückeis

Berliner Lebensadern (11): Potsdamer Chaussee: Fortsetzung des Raststättenprinzips

Straßen erzählen Geschichten. Stadtgeschichten, Kiezgeschichten, Lebensgeschichten. Die Potsdamer Chaussee ist Berlins prächtigste und grünste Ausfallstraße.

Urlaubsreisen fingen zu Mauerzeiten so an: Spätestens, wenn wir bei Dreilinden von der Potsdamer Chaussee auf die Autobahn abbogen, erklärte meine Mutter im Brustton der Überzeugung: „Diesmal sage ich es ihnen! Im Transitabkommen steht unmissverständlich ,zügige Abfertigung des Grenzverkehrs’!“ Woraufhin alle übrigens Wageninsassen sofort riefen, sie möge das bloß sein lassen. Natürlich war die Warterei vor den Kontrollhäuschen nervig, doch keiner von uns hatte Lust, den „Gänsefleisch“-Test zu machen, sich – wie in dem ollen Kalauer – von einem sächselnden Vopo zum Rechtsranfahren auffordern zu lassen.

Auf dem Rückweg dann löste die Ausfahrt „Wannsee/Zehlendorf“ zunächst Erleichterung aus – endlich wieder im Westen! –, und dann die rhetorische Frage, diesmal formuliert von meinem Vater: Ob denn unser Haus wohl noch stehe oder nicht vielleicht doch abgefackelt sei? Mit hundertprozentiger Sicherheit gefolgt von der Feststellung, dass wir ja, hausratstechnisch, hoffnungslos unterversichert seien.

Nun, das Eigenheim blieb über all die Jahre unversehrt. Dafür fiel die Mauer – und die Potsdamer Chaussee löste keine besonderen Zonen-Emotionen mehr aus, wurde zur schnöden Asphaltpiste, zum Weg von A nach B, nun gerne auch nach Potsdam. Dabei ist die sechsspurige Straße mit dem breiten Mittelstreifen und ihren in vier Reihen gepflanzten Bäumen zweifellos Berlins prächtigste Ausfallstraße, Teil einer im 18. Jahrhundert von königlichen Gnaden angelegten Verbindung zwischen dem Berliner und dem Potsdamer Stadtschloss.

Wer sich hier Flaneurgeschwindigkeit erlaubt, dem fällt vor allem eines auf: Wie unverschämt grün alles ist. Über weite Strecken säumen Parks die Strecke, dank klammer Bezirkskassen mittlerweile mehr oder minder verwildert. Nur rudimentär gepflegt präsentiert sich auch der Waldfriedhof, der kurz hinter dem Autobahnkreuz Zehlendorf beginnt. Hier liegen Willy Brandt und Hildegard Knef, Hans Scharoun, Boleslaw Barlog, Tatjana Gsovsky und, ganz nahe bei Ernst Reuter, Tagesspiegel-Mitbegründer Erik Reger. So richtig still wird es allerdings auch auf dem weitläufigen Gedenkgelände nie. Das Dauerrauschen der Magistrale lässt sich eben nicht wegdiskutieren.

Darum wohnt man in der Potsdamer Chaussee auch nicht in der ersten Reihe. Glücklich, wer hinterm Waldfriedhof eines der skandinavischen Reihenhäuschen zwischen Himbeersteig und Gänseblümchenweg besitzt. Dort haben die Spielstraßen ihren Namen wirklich verdient, dort wirkt alles wie in einer westdeutschen Vorortsiedlung. Überhaupt stößt man rechts und links der Chaussee überall auf ganz ungroßstädtische Ecken. Da ist die hochnoble Rehwiese, die fast bis in die Auffahrt zur A 115 hineindrängt, da gibt es geradezu dörfliche Straßen in Düppel, während in den nördlich der Chaussee angrenzenden Regionen von Nikolas- und Schlachtensee Wirtschaftswunder-Bungalows mit Backsteinbauten aus den Zwanzigern und Gründerzeitvillen abwechseln.

Neben dem evangelischen Gemeindehaus am Pfeddersheimer Weg wuchert Unkraut zwischen hochstämmigen Kiefern. Ein Lebensmitteldiscounter hatte das Grundstück von der Kirche gekauft, seine Rechnung aber ohne die Anwohner gemacht. Die nämlich setzten dem Bezirksparlament mächtig zu und verhinderten den Kommerz-Zweckbau im Wohngebiet. Schließlich gibt es schräg gegenüber im Bogen-Haus am Wasgensteig genug Einkaufsmöglichkeiten, und auch auf dem Parkplatz des Studentendorfs Schlachtensee entsteht gerade ein neuer Supermarkt. Ach ja, das Studentendorf: Wer 68 hier lebte, schwärmt noch heute von der Campusatmosphäre – und genau so, als Hort gelebter Demokratie, hatten es sich die Amerikaner ja auch vorgestellt, als sie Ende der fünfziger Jahre die 28 Häuser mit den Zehn-Quadratmeter-Buden für Studierende der Freien Universität spendierten. Tempi passati. Derzeit wirkt das 1990 unter Denkmalschutz gestellte Ensemble vor allem verwohnt. Bis 2017 wird sich, bei laufendem Betrieb, die begonnene Grundsanierung hinziehen.

Verrückt, wie viele Tankstellen und Restaurants am Straßenrand liegen. Erstaunlich auch, dass Benzin- und Gastgewerbe an der Potsdamer Chaussee so häufig im Doppelpack auftreten, gewissermaßen als Fortsetzung des Raststättenprinzips von der Autobahn. Da sind das Steakhaus direkt neben „Aral“ und der Dubrovnik Grill neben „Agip“, da paaren sich Villa Medici und „Shell“, Ristorante Messalina und „Star“.

Dort, wo sich die „Star“-Filiale des polnischen Mineralölkonzerns Orlen an der Ecke zur Lindenthaler Allee befindet, wurde übrigens 1930 der legendäre Ufa-Film „Die Drei von der Tankstelle“ gedreht. Heinz Rühmann! Willy Fritsch! Oskar Karlweis! Wehmütig gleitet das Auge des Betrachters zwischen dem gesichtslosen Zweckbau von heute und dem Schwarz-Weiß-Foto jenes eleganten Klinkerbaus mit dem weit vorgezogenen Ziegeldach hin und her, an dem einst Lilian Harvey im weißen Mercedes-Cabrio vorfuhr. Eine Kreuzung weiter, wo Spanische und Lissabonallee einmünden, ging am 8. März 1989 Winfried Freundenbergs Gasballon nieder. Der 32-Jährige aus Lütgerode starb beim Versuch, die Zonengrenze zu überwinden.

Hinter der S-Bahn-Brücke wechselt die Chaussee tückisch ihren Namen, heißt plötzlich, 14 Kilometer zu früh!, Potsdamer Straße. Ein Postbotenalbtraum. Erste Einmündung, wie passend: eine Bülowstraße. Hier betreibt Herr Scholz unter roter Wachstuchplane seinen fliegenden Handel, seit 15 Jahren, immer von Mai bis September – oder anders gesagt vom Beelitzer Spargel bis zu den Knuppern aus Werder. Die schräg gegenüber vom Obststand abzweigende Schotterpiste nennt sich Fischer-Dieskau-Weg, allerdings nicht nach dem berühmten Bariton, sondern nach seinem Vater Albert, dem Gründer des Zehlendorfer Gymnasiums. In der Nummer 29, im einzigen mehrstöckigen Gebäude zwischen den geduckten Ackerbürgerhäusern, hatte der Maler Lyonel Feininger von 1911 bis 1919 sein Atelier.

Jetzt macht die Straße einen sanften Schwenk, die Häuser stehen dichter, der Mittelstreifen wird schmaler, schon rückt die 1871 gepflanzte Friedens-Eiche an der Zehlendorfer Dorfkirche ins Blickfeld. Schön, wieder in der Stadt zu sein.

Bisher erschienen: Oranienstraße (13. 7.), Motzstraße (16. 7.), Schiffbauerdamm (20. 7.), Bergmannstr. (23. 7.), Martin-Luther- Str. (27. 7.), Sybelstr. (30. 7.), Immanuelkirchstr. (3. 8.), Schillerpromenade (6. 8.), Edisonstr. (10. 8.), Yorckstr. (13.8.)

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