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Eine weitere Berliner Lebensader: Die Karl-Liebknecht-Straße am Alexanderplatz.

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Berliner Lebensadern (17): Karl-Liebknecht-Straße: Ulbrichts Traum, Hitlers Schatten

Straßen erzählen Geschichten. Stadtgeschichten, Kiezgeschichten, Lebensgeschichten: Eine Fahrt durch die Karl-Liebknecht-Straße gleicht einem Trip durch die deutsche Geschichte.

Die Karl-Liebknecht-Straße ist vielleicht nicht die schönste Straße, aber sie hat meine tiefe, anhaltende und unverrückbare Liebe zu Berlin begründet. Das war 1992. An einem schönen Maimorgen rollte ich, unterwegs zur Humboldt-Uni, mit dem Fahrrad die Prenzlauer Allee hinunter aufs Prenzlauer Tor zu. Aus dem Tor in der Berliner Zollmauer war längst eine Kreuzung geworden, an der sich die Prenzlauer Allee, Moll-, Wilhelm-Pieck- und Karl-Liebknecht-Straße trafen. Noch zwei Jahre sollte die Pieck-Straße den Namen des ersten Präsidenten der DDR tragen, bevor sie in Torstraße umbenannt wurde. An der Ampel, kurz vor der Karl-Liebknecht-Straße, ragte das leere „Haus der Einheit“ auf, Gedenktafeln erinnerten an Pieck und an Otto Grotewohl, den ersten Ministerpräsidenten der DDR. Auch das ZK der SED hatte hier seinen Sitz, bevor es an den Werderschen Markt umzog. Ganz früher war das Gebäude ein Warenhaus gewesen. Während der NS-Zeit waren Teile der „Reichsjugendführung“ dort untergebracht.

Heute – 2010 – sind die Gedenktafeln verschwunden. Aus dem Zentralkomitee ist das „Soho House“ geworden, ein exklusiver Privatclub für junge – und erfolgreiche – Künstler, Musiker und Medienmanager. Einige Etagen werden als Hotel genutzt, die edlen Clubräume im Obergeschoss und die Dachterrasse mit Bar und Swimmingpool sind den Mitgliedern und Gästen vorbehalten. Walter Ulbricht hätte es sich nicht träumen lassen, dass eines Tages die Kinder des Kapitalismus im Politbüro am Champagner nippen würden. Von der Terrasse aus hat man einen schönen Blick über Berlin. Entsteigt man dem blau gekachelten Schwimmbecken, sieht man schräg gegenüber die bröckelnde Fassade des ADN-Gebäudes, dem früheren Sitz der DDR-Nachrichtenagentur.

1992, als die Ampel grün wurde, und ich mit meinem klapprigen Rad wieder Fahrt aufnahm, war der „Allgemeine Deutsche Nachrichtendienst“ gerade an den „Deutschen Depeschendienst“ verkauft worden und in das Haus die Redaktion der „Super Illu“ eingezogen. Dieser erste Teil der Karl-Liebknecht-Straße – der eigentlich ihr Ende ist und erst in den sechziger Jahren angelegt wurde, wird von Geschäftshäusern gesäumt, deren höchstes das des Berliner Verlages ist.

Jenseits der Memhardstraße wandelt sich das Bild. Touristen drängen einem entgegen, sie wollen in die Buslinien 100 und 200. Immer näher kommt man den eigentlichen Attraktionen der Straße. Links erstrahlt das renovierte, ehemalige Centrum Warenhaus, dann folgt der Bahnhof Alexanderplatz. Schon davor hat jeder Besucher natürlich die Ungeheuerlichkeit gesehen, die sich dahinter erhebt. Welche Zivilisation, muss er sich fragen, kommt auf die Idee mitten in der Stadt, neben einer Kirche aus dem 13. Jahrhundert, einen 368 Meter hohen Fernsehturm zu bauen? In Wirklichkeit, das haben Computer-Hacker recherchiert, ist der Fernsehturm die Antenne einer vor hunderttausenden Jahren abgestürzten und unter dem Alexanderplatz vergrabenen Raumstation.

Auf der anderen Seite der Straße, die hier früher Kaiser-Wilhelm-Straße hieß, wurden in den sechziger Jahren Wohnblöcke gebaut, in deren Untergeschoss man heute einen wilden Mix an Geschäften findet. Das „Berlin Carré“, ein vergleichsweise kleines Einkaufscenter, entfaltet seinen ganz eigenen, chaotischen Charme. Während man in den riesigen, überall mehr oder weniger gleichen Konsumerlebnistempeln immer im Kreis geführt wird, bis man etwas gekauft hat, schaffe ich es hier, mich zu verirren. Einen Block weiter ragt ein Zipfel der Rosenstraße in die Liebknecht-Straße hinein. Eine Litfaßsäule erinnert an die spontanen Demonstrationen, zu denen es an dieser Stelle kam, als die Gestapo 1943 Tausende von Juden aus sogenannten „Mischehen“ dort eingesperrt hatte, denen die Deportation drohte. Ihre Ehepartner protestierten mehrere Tage lang. Am Ende wurden die meisten wieder freigelassen.

Überquert man die Spandauer Straße, steht man vor dem „Domaquarée“, in dem jetzt das „Sea Life“ vor sich hin blubbert, dahinter schließt sich das Radisson Blu Hotel an, um die Ecke lockt das DDR-Museum mit Attraktionen des untergegangenen Sozialismus. Als ich 18 Jahre zuvor dort langfuhr, stand dort das Palast-Hotel. Es war eines jener Hotels, die in der DDR West-Besuchern vorbehalten waren. Legenden rankten sich darum. Einige Zimmer sollen rund um die Uhr von der Stasi überwacht, Prostituierte als IM eingesetzt, dunkle Devisengeschäfte abgewickelt, ein palästinensischer Terrorist hier versteckt worden sein.

Ist man am Hotel vorbei, geht es über die Liebknecht-Brücke. Sie wurde erst nach dem Krieg gebaut. Die Kaiser-Wilhelm-Brücke, die hier einst die Spree querte, war schon von den Nazis zum Abriss freigegeben worden. Für Hitlers Traum von „Germania“ war sie nicht breit genug. Heute laufen hier Touristen die Treppen hinunter zum Ufer, um eines der zahllosen Ausflugsschiffe zu besteigen. Früher fuhren diese Schiffe unter der Brücke hindurch und tuckerten dann an der rückwärtigen Front des Palastes der Republik vorbei. Das ist nun auch schon längst Geschichte, dabei ist das Verschwinden des Palastes gar nicht so lange her. Erst im Dezember 2008 wurde der letzte Stein auf Nimmerwiedersehen ab- und fortgetragen. Würde mich jemand fragen, wann ich den Palast zum letzten Mal bewusst gesehen habe, so würde ich diesen Moment zeitlich etwa in dem Jahr verorten, in dem Christo den Reichstag verhüllte. So arbeitet das Vergessen manchmal schneller als die Abrissbirne.

Auf der anderen Seite des ehemaligen Marx-Engels-Platzes steht das ehemalige Staatsratsgebäude, dessen Eingangsportal zu den wenigen erhaltenen Teilen des ehemaligen Schlosses gehört. Von seinem Balkon aus hatte Liebknecht die Sozialistische Republik ausgerufen. Heute trainiert eine private Hochschule hier den Führungsnachwuchs. Während die Managerschule mit „Am Schlossplatz 1“ firmiert, liegt der Berliner Dom an der Karl-Liebknecht-Straße. Die Adresse lautet allerdings „Am Lustgarten“ – der Haupteingang ist um die Ecke. Wer einmal ein Modell des Vorgängerbaus, des Schinkeldoms, gesehen hat, der wird es bedauern, dass dieser klassizistisch-elegante Bau den Hohenzollern nicht groß genug war. Doch wer wollte jetzt nach einer Stadtschloss-Wiederaufbau- noch eine Dom-Rückbau-Diskussion führen?

1992, als ich mit meinem Rad am Anfang der Karl-Liebknecht-Straße hielt, war hier kaum jemand unterwegs. Der Palast lag in tiefem Schlaf, das Alte Museum war noch zu, der Schatten des Doms berührte leicht den Lustgarten. Ein Fahrzeug der Straßenreinigung schrubbte langsam an mir vorbei, die Sonne schien, es roch nach feuchtem Asphalt. In diesem Moment überkam mich zum ersten Mal jenes Gefühl, das jeder Liebhaber irgendwann hat: dass sie, die Stadt, mir gehört und dass sie nur auf mich wartet.

Norbert Zähringers dritter Roman erschien im vergangenen Jahr: „Einer von vielen“ (Rowohlt Verlag).

Norbert Zähringer

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