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© Thilo Rückeis

DJ und Diplom: Der Techno-Akademiker

Soziologe Jan-Michael Kühn hat eine Diplomarbeit über elektronische Tanzmusik geschrieben. Das Wissen dazu hat er sich im Berliner Nachtleben angeeignet.

Seit mehr als fünf Jahren ist das „Casino“ schon dicht, aber Jan-Michael Kühn erinnert sich an seinen ersten Besuch in dem Club nahe Ostbahnhof, als läge er ein Wochenende zurück und nicht bereits ein Jahrzehnt. Von vorne schlug ihm die Hitze der tanzenden Menge ins Gesicht, von hinten drängelte Nachtmenschennachschub in den Raum und drückte Kühn mitten rein ins Techno-Geschehen. Von diesem Moment an war er fasziniert. Was er damals nicht ahnte: dass diese Nacht seinen späteren Werdegang mitbestimmen würde.

Es ist früher Nachmittag und Jan-Michael Kühn, 29, sitzt im „Puschkin“ am Rosenthaler Platz in Mitte, gleich um die Ecke wohnt er. Kühn redet mit ruhiger Stimme. Dabei hätte er allen Grund, aufgeregt und überdreht zu sein. Gerade hat er sein Soziologiestudium an der Technischen Universität beendet, mit einer Diplomarbeit zum Thema Techno. Der Titel: „Wie entsteht Neues bei der Produktion elektronischer Tanzmusik im Homerecording-Studio?“ Für seine „explorative ethnografische Erhebung“ hat er mit verschiedenen Berliner Techno-Produzenten gesprochen, sie beim Basteln ihrer Musikstücke beobachtet. Sein Fazit: Das Genre Techno gibt bestimmte musikalische Gestaltungsmöglichkeiten vor; die Infrastruktur der Szene bietet die wirtschaftlichen Verwertungsmöglichkeiten.

Dass sich Jan-Michael Kühn mit diesem Thema beschäftigt hat, ist unter anderem auf jenen Abend im „Casino“ zurückzuführen. Damals beschloss Kühn, selbst die Menschen zum Tanzen bringen zu wollen. Deshalb nannte er sich fortan Fresh Meat und wurde DJ. „Das alles hat mich total gepackt“, sagt Kühn. So sehr, dass er sich umgehend Plattenspieler kaufte und anfing, aufzulegen. Erst daheim, zum Üben. Später in verschiedenen Berliner Clubs, unter anderem dem „Golden Gate“ in Mitte, wo er auch diesen Donnerstag wieder an den Decks stehen wird. Eine Zeit lang versuchte Kühn, auch selbst Techno-Songs zu produzieren. Aber weil ihn das Ergebnis seiner Arbeit am heimischen Rechner nicht zufrieden stellte, ließ er es wieder bleiben. „Die Stücke wurden meinen Ansprüchen an die Qualität nicht gerecht“, sagt Kühn. „Vor allem war ich gelangweilt vom Produzieren, das war nichts für mich.“

Trotzdem begleitete er die Techno-Produzenten im Rahmen seiner Diplomarbeit mit großem Interesse. Die störten sich nicht an seinen Fragen. „Techno wird ja meist nur als Konsumprodukt wahrgenommen“, sagt Kühn, „deshalb haben die sich darüber gefreut, dass sich jemand für die Arbeit hinter dem fertigen Stück interessiert.“ Allerdings, betont er, erkläre seine Untersuchung nicht, wie man gute Musik produziert. Der Text beschreibe lediglich, wie und warum sie überhaupt entsteht. Die meisten seiner Gesprächspartner gaben an, mit den selbst gebastelten Tracks ihre Popularität und ihren Marktwert steigern zu wollen. „Du bist nichts anderes als eine Britney Spears oder Madonna, die Musik auf den Markt schmeißen, um gebucht zu werden“, sagt einer der DJs, die nicht namentlich genannt werden wollten.

Die Zahl der Berliner Techno-Produzenten steigt stetig. Das liegt daran, dass die benötigte Hard- und Software mittlerweile für ein paar hundert Euro erhältlich ist. Programme wie „Ableton Live“ sind für viele erschwinglich geworden ist. Und Internetplattformen wie „Beatport“ bieten die Möglichkeit, die Stücke für ein bis zwei Euro zu verkaufen.

Dass Jan-Michael Kühn eines Tages Akademiker wird, daran glaubte er wohl vor einigen Jahren selbst noch so wenig wie seine Mutter. Die zog mit den zwei Kindern Ende der 80er Jahre von Pankow nach Strausberg, wo Kühn nach eigener Aussage die falschen Freunde kennenlernte und abzudriften drohte. In der neunten Klasse blieb er sitzen, in der Familie war er fortan das Sorgenkind. Bis er Ende der 90er Jahre nach Köln zog, um eine Ausbildung zum Einzelhandelskaufmann zu absolvieren und das Abitur an der Abendschule nachzuholen. Zu Beginn der Jahrtausendwende kehrte Kühn zurück nach Berlin. Wenig später begann er sein Soziologiestudium an der TU.

Sein Professor und seine Kommilitonen fanden Kühns Thema für die Diplomarbeit spannend. „Üblicherweise geht es in den Abschlussarbeiten um Familienstrukturen“, sagt er. Plötzlich war aus dem einstigen Sorgenkind ein Exot geworden, der sein Studium mit 1,8 beendet hat. Derzeit bereitet Kühn seine Promotion vor, Thema: „Erwerbsarbeit in der Techno-Szene“. Außerdem betreibt er die Internetplattform „Berlin Mitte Institut“, für die er eine 14-tägliche Radioshow produziert und über die er DJs vermittelt. Und wenn er nicht gerade selbst auflegt, geht Jan-Michael Kühn immer noch viel aus. Nur die Leichtigkeit dieser Abende ist ein wenig verloren gegangen: „Manchmal fällt es mir schwer, die Soziologenbrille abzulegen.“

Golden Gate, Dircksenstraße 77, Mitte. Beginn: 0 Uhr. Eintritt: 5 Euro

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