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© David von Becker

Friedenau: Das Nobel-Viertel

Herta Müller, Günter Grass, Uwe Johnson, Erich Kästner: Viele Schriftsteller wohnen oder wohnten in dem beschaulichen Stadtviertel im Berliner Südwesten. Liegt in Friedenau das Schreiben in der Luft?

Das soll ein Dichterviertel sein? Drei Ghettoboys kicken unten im S-Bahnhof Friedenau eine Blechbüchse herum. Graffiti bedeckt die Wände, Müll fliegt herum, die Stadtautobahn rauscht, und am Dürerplatz grüßen hässliche Neubauwürfel und Aldi herüber. Literaturnobelpreisträgerin Herta Müller wohnt in der gleich südlich vom Bahnhof gelegenen Menzelstraße herrschaftlicher, aber mit dem sogenannten Malerviertel hat sie eindeutig Friedenaus härtere Ecke als Heimat gewählt. Vom Nobelpreis gleich um die Ecke weiß die nette Barkeeperin im „Remmy 42“ in der Rembrandtstraße nichts. Aber sie liest gern, sagt sie und zieht an ihrer Frühstückszigarette: „Konsalik, Simmel und B.Z.“.

Günter Grass, der vor zehn Jahren als erster langjähriger Friedenauer den Nobelpreis gewann, war offenbar mehr auf Idylle gepolt: Er bewohnte von 1963 bis 1996 ein romantisches kleines Landhaus mit Vorgärtchen in der beschaulichen Niedstraße 13. Die liegt jenseits von Bahndamm und Stadtautobahn zwischen Breslauer- und Friedrich-Wilhelm-Platz und gilt als Friedenaus literarische Vorzeigemeile.

Gleich neben Grass’ Ex-Villa Kunterbunt, wo heute die Fernsehcomedy „Türkisch für Anfänger“ gedreht wird, ragt ein eleganter elfenbeinfarbener Gründerzeitbau in die Höhe: Da lebte ab 1959 sein Freund Uwe Johnson, nachdem er aus der DDR rübergemacht war. Interessanterweise im ehemaligen Atelier des „Brücke“-Malers Karl Schmidt-Rottluff, der, genau wie Johnson, danach in die Stierstraße zog. Ein Zufall, der ganz nebenbei erzählt, dass der 1871 als Gartenstadt gegründete Vorort Friedenau genauso bildenden Künstlern der Jahrhundertwende wie Schriftstellern der Dreißiger und Sechziger gefiel. Beide lebten gleich scharenweise im heutigen Schöneberger Ortsteil.

Freitagabend in der Rheinstraße. Sechsspurig donnern die Autos vorbei, es riecht nach Benzin, nicht nach Literatur. Aber drinnen bei der Dichterlesung in der Buchhandlung „Der Zauberberg“, da ist es still und prachtvoll. Deckenbögen, Riesenfenster, hohe Regale voller Buchrücken. „Ein Märchenschloss“ nennt Natalia Liublina ihre Buchhandlung an der Ecke Kundrystraße. Neben der Nicolaischen Buchhandlung in der Rheinstraße 65 und der Buchhandlung Thaer in der Bundesallee 77 ist sie einer der drei Bücherorte in Friedenau. Und unter dem alten Namen „Wolff’s Bücherei“ war sie einst der legendäre Büchertreff des Viertels. Anlaufstelle und Leseort beispielsweise für Max Frisch, der in der Sarrazinstraße 8 wohnte, und dessen Witwe immer noch vorbeischaut.

Kleine Landhäuser samt Gärten à la Villa Grass

Theaterkritiker Friedrich Luft wohnte gegenüber und lernte hier als 19-jähriger Student ab 1929 bei Buchhändler Andreas Wolff, der die Friedenauer Presse gründet, sozusagen Lesen und Denken. „Kleinbürgerlich“ nennt er die Atmosphäre im ländlichen Vorort seiner Kindheit. Da war die in „Wolff’s Bücherei“ angebotene literarische Moderne schon ziemlich aufregend, zumal hier in der Nazizeit auch verbotene Autoren zu bekommen waren. Bebaut war der Vorort auf der „friedlichen Au“ für Beamte, Lehrer, Künstler und Literaten ohne üppiges Einkommen damals noch mit kleinen Landhäusern samt Gärten à la Villa Grass, die dann die Gründerzeitbauten ersetzten.

Und dann gibt’s zu Beginn der Lesung von Stephan Thome im „Zauberberg“ erst mal einen Lacher. Genau wie Herta Müller, die hier natürlich auch schon gelesen hat, ist Thome Aspekte-Literaturpreisträger und ebenso wie Herta Müller gerade Kandidat für den Deutschen Buchpreis, der am Montag verliehen wird. Gute Gründe also, sich Thomes Romandebüt „Grenzgang“ sofort signieren zu lassen, findet die Buchhändlerin. Kleiner Schönheitsfehler des an der FU promovierten, potenziellen Nobelpreiskandidaten: Er wohnt in Taipeh statt in Friedenau. Anders als sein munterer Onkel, ein Soziologieprofessor, der hier mehr Ruhe statt Lebendigkeit findet.

Die Kneipenszene hat seit den weinseligen 68er-Tagen stark nachgelassen

Die Friedenauer Kneipenszene hat seit den weinseligen 68er-Tagen von Günter Grass, Hans Magnus Enzensberger, Nicolas Born, Yaak Karsunke oder Uwe Johnson stark nachgelassen, meint auch Harald Loch. Der gebürtige Friedenauer ist Literaturkritiker und war mal Mitinhaber von „Wolff’s Bücherei“. Das mythenträchtige „Bundeseck“ am Friedrich-Wilhelm-Platz, wo die vom revolutionären Geiste beseelten Dichter der Sechziger und Siebziger „mehr soffen als diskutierten“, so Loch, gibt es nicht mehr. Dafür Bioläden, Cafés, Tortenmanufakturen und Kinderboutiquen im von jungen Familien neu entdeckten Künstlerquartier.

Was das für ein Nährboden ist, der Friedenau so literarisch wertvoll machte, weiß Gudrun Blankenburg. Sie hat das Buch „Friedenau – Künstlerort und Wohnidyll“ geschrieben und führte gerade gestern Mittag wieder Friedenau-Fans über die Literaturmeile. Eine grüne, vom Krieg nicht so stark zerstörte Oase mit großen, bezahlbaren Wohnungen in Großstadtnähe, beschreibt sie bündig die Vorzüge des Viertels. Und natürlich gaben sich die Dichter gerade im wohnraumknappen Berlin Tipps, wo es überhaupt Wohnungen mit Platz für Bücher gibt. Dieselben einfachen Gründe nennt auch Christa Moog, die in der Fregestraße 68 das außen schmucklose, aber innen kuschelige Literaturhotel Friedenau führt. Uwe Johnson war hier einst Gast, Grass brachte Verwandtenbesuch unter, Christoph Meckel las und Christa Moog ist – na? – Aspekte-Literaturpreisträgerin.

Trotz Herta Müller: Berlin hat kein Dichterviertel

Und wie steht es sonst um die heutige literarische Szene im 26 000 Einwohner großen Friedenau? Da geraten alle Friedenauer ins Grübeln: Klar, Herta Müller lebt hier, Edgar Hilsenrath, Reinhard Jirgl und Julia Franck wohl auch noch, dann wird’s schon dünner. Berlin habe kein Dichterviertel mehr, meint denn auch Ernest Wichner, Autor und Leiter des Literaturhauses Berlin. Er wohnt in Friedenau in der Niedstraße neben Erich Kästners alter Behausung und geht seit zehn Jahren jeden Sonnabendmittag mit seiner alten Freundin Herta Müller über den Wochenmarkt am Breslauer Platz. Außer gestern, da musste er arbeiten und trotz Nobelpreis alleine los. „Dass Literatur hier in der Luft liegt, ist Legende“, stellt Wichner trocken fest.

Und im Leitungswasser steckt sie auch nicht. Sonst wäre der pampige Friedenauer, der Freitagnacht in Jogginghosen an „Wolfgang’s schnellem Imbiss“ auf dem Friedrich-Wilhelm-Platz steht, sicher anders drauf. Inspirierter, lieblicher, nachdenklicher. Warum er in Friedenau lebt? „Weil ich hier Kaffee trinken kann“, blafft er. Hinterm Bushäuschen daneben balgen sich schon wieder drei Ghettoboys.

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