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Stadtleben: gab’s nur im „Centrum“

der letzten Zeit zweimal erwischt worden war und mir derartige Eskapaden gar nicht mehr erlauben durfte, doch das Tuch steckte nun mal in meinem Ärmel. So beschloss ich, den Diebstahl nicht rückgängig zu machen und möglichst schnell das Freie zu suchen.

der letzten Zeit zweimal erwischt worden war und mir derartige Eskapaden gar nicht mehr erlauben durfte, doch das Tuch steckte nun mal in meinem Ärmel. So beschloss ich, den Diebstahl nicht rückgängig zu machen und möglichst schnell das Freie zu suchen. Ich drehte mich weg von dem Ständer, reckte den Kopf, hielt Ausschau nach dem kürzesten Weg Richtung Rolltreppe – und spürte im selben Moment den Druck eines bloßen Daumens auf den wenigen Zentimetern Haut zwischen Mantelkragen und Pudelmützenrand. Als ich erschauernd die Schultern hochzog, hob die Hand, die sich so schattenleicht dort niedergelassen hatte, ab von meinem Nacken; doch eine Zehntelsekunde später, ich hatte schon aufatmen und anfangen wollen, an eine zufällige oder wenigstens irrtümliche Berührung zu glauben, packte sie mich beim linken Oberarm, umschloss ihn ganz, zog an mir, zwang mich, rückwärts zu gehen. Ich bog den Kopf zur Seite und so weit nach hinten als möglich, erblickte einen barhäuptigen Mann in einem braunen Jackett und wusste sofort, dass ich den nicht zum ersten Mal sah. Gleich nachdem ich das Warenhaus betreten hatte, war er mir aufgefallen. Er war einer der wenigen Männer unter all den Frauen und Kindern, hatte ihnen im Weg gestanden wie ein Verirrter, sich nicht für die Kerzen interessiert und so seltsam sommerliche Klamotten an, also weder Handschuhe noch Mütze und Schal, nicht einmal Mantel, Anorak oder Skipullover, bloß ein dünnes Hemd und den hässlichen kotbraunen Anzug, in dem er jetzt hinter mir stand. Gut, hatte ich gedacht, womöglich wohnt der gleich um die Ecke, oder sie haben hier sogar eine Garderobe, heiß genug ist es ja. Doch die Menschen hatten mich vorwärtsgestoßen, zu weiteren Tischen voller Baumkerzen und schließlich zur Rolltreppe, und dann, bei den Russentüchern im ersten Stock, hatte ich zugefasst, und nun er.

„Folgen Sie mir bitte und leisten Sie keine Gegenwehr“, sagte der Mann leise, mit einer weichen, täuschend freundlich klingenden, zu seinem groben Klammergriff so gar nicht passenden Stimme. Und ich ließ mich von dem Mann durch das Gewusel führen wie eine Blinde über eine Hauptverkehrskreuzung. Tatsächlich sah ich nicht besonders gut, weil meine Augen sich mit Tränen füllten; dennoch wurde mir immer klarer, dass dieser Mann einen Job machte, den ich bislang nur aus einigen nicht inländischen Filmen gekannt, mitten in unserer Wirklichkeit aber nicht für möglich gehalten hatte: Er war ein Kaufhausdetektiv.

Anders als in der Erzählung, die ich Jahrzehnte später schrieb und deren auslösendes Moment jene mir trotzdem unvergessliche Episode gewesen war, endete in Wahrheit alles vergleichsweise glimpflich, mit einer letzten Verwarnung seitens der Schiedskommission meines Betriebes, einer Geldstrafe und dem Hausverbot für die Dauer eines Jahres.

Ich habe den Kasten am Alex erst wieder betreten, als er längst nicht mehr Centrum hieß, und auch bloß einmal und selbst dieses eine Mal gegen meinen von Erinnerung(en) gebremsten Willen und nur, weil ich etwas abholen musste; trotzdem, er gehört zu meinem Leben wie meine seit einer Ewigkeit tote Tante Gisela, von der ich mir an meinem fünften Geburtstag die erste Schelle gefangen hatte – und ich bin die Einzige, die noch weiß, wofür.

Dieser Text erscheint in dem neuen Buch „Alexanderplatz“ (Jaron Verlag).

— Harald Hauswald: Alexanderplatz – Fotografische und literarische Erinnerungen. Mit Texten u. a. von Freya Klier, Katja Lange-Müller, Horst Bosetzky, Alexander Osang. Jaron Verlag. 128 Seiten, 14,90 Euro.

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