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Der Bero, die Oase. Ostberliner Originalschauplatz, immer noch da. Wie hineingefräst, eine Zahnlücke im sonst makellosen Gesicht des Viertels.

© William Veder

Geschichte eines Fußballvereins in Mitte: Zweimal Bero, immer Bero

Die einen wuchsen hier auf, die anderen zogen zu. An Spieltagen treffen sich alte und neue Mitte, Vor-Wende-Berliner und Bionade-Bürgertum, auf dem Fußballplatz von Blau Weiß Berolina zwischen Tor- und Auguststraße - und fremdeln bis heute. Mit Reporterpreis-Gewinner Lucas Vogelsang bei einem Fußballverein, der eigentlich zwei Clubs ist.

An einem Samstag im November steht Marcus Schröder auf seinem Platz und ist nervös. Seine Mannschaft spielt in dieser Saison um den Aufstieg in die Kreisklasse A, wichtiges Spiel heute, und Schröder hat kein gutes Gefühl. Keine zwanzig Meter entfernt steht Kristina Kratz-Kessemeier auf ihrem Platz und ist erleichtert. Ihre Mannschaft hat trotz einiger Ausfälle die Tabellenführung behauptet. Ein gutes Gefühl. Während Marcus Schröder in der Kabine ganz hinten die Trikots seiner Spieler säuberlich auf den Umkleidebänken auslegt - noch eineinhalb Stunden bis zum Anpfiff, Ordnung muss sein -, packt Kristina Kratz-Kessemeier die verschwitzen Trikots ihrer Spielerinnen in eine große Sporttasche. Sie ist fertig für heute. Noch ein letzter prüfender Blick. Ordnung muss sein. Er, 29, Maler und Lackierer, Trainer der 3. Männer des SV Berolina Mitte, sagt: Bero ist mein Leben. Sie, 44, Kunsthistorikerin, Betreuerin der Mädchen-E-Jugend, in der ihre Tochter spielt, sagt: Bero bedeutet uns sehr viel. Sie stehen dort, Kleine Hamburger Straße, Berlin-Mitte, und sprechen vom selben Verein. Oder doch nicht? Marcus Schröder und Kristina Kratz-Kessemeier kennen sich nicht. Der SV Blau Weiß Berolina Mitte liegt im Herzen eines Viertels, das sich in den vergangenen fünfzehn Jahren so stark und schnell verändert hat wie kaum ein anderes in Berlin. Ehemals Abbruchgebiet, Schmuddelecke, wurde es nach 1990 erst zum Sehnsuchtsort der Boheme und schließlich zur Spielwiese der Investoren. Würde man eine Nadel in das Zentrum einer Berlinkarte stechen, sie bliebe wohl genau im Mittelkreis des Bero stecken, dem Fußballplatz, der so heißt wie der Verein, der auf ihm spielt.

Der Bezirksligist ist hier zu Hause, seitdem er 1991 aus dem Zusammenschluss von Medizin Mitte, Mannschaft der Charité, und der BSG Motor Mitte hervorgegangen ist, einem Verein, der schon zu Mauerzeiten seine Heimspiele hier austrug. Ostfußball zwischen Brandmauern, auf einem Platz, der heute wie hineingefräst scheint in die Kulisse aus gläsernen Neubauten und neubürgerlicher Altbau idylle. Eine Zahnlücke im sonst makellosen Gesicht des Viertels. Und natürlich attraktiver Baugrund. Ein Platz, den der "Spiegel" einmal als Filetstück bezeichnet hat, jeder Kunstgrashalm verschwendetes Spekulationsgebiet. Der Bero, viel mehr als nur Fußballfeld, ist aber auch ein Ort, Ost-Berliner Originalschauplatz, an dem nach der Wende ein DDR-Gefühl konserviert wurde, das sich woanders bereits zu verflüchtigen begann. Deutsch-demokratische Asservatenkammer.

Auf dem Bero stehen sie immer noch, die Menschen von damals. Unser Bero, sagen sie. Ihr Verein. Und sind doch auch hier nicht mehr unter sich.

Früher kannte Schröder alle hier.

Ordnung muss sein. Vor jedem Spiel legt Schröder die Trikots seiner Spieler in der Kabine aus. Ein bisschen Bundesliga in der Kreisklasse.
Ordnung muss sein. Vor jedem Spiel legt Schröder die Trikots seiner Spieler in der Kabine aus. Ein bisschen Bundesliga in der Kreisklasse.

© William Veder

Am Dienstag vor ihrem Spiel, es ist einer der ersten Nachmittage, an dem die Dunkelheit früh über die Stadt kommt, hat Kristina Kratz-Kessemeier ihre Kinder von der Schule abgeholt und ist direkt zum Bero gefahren. Hannah und Jonathan besuchen eine Ganztagsschule. Unterricht bis 16 Uhr. Dafür aber keine Hausaufgaben. Jonathan, sieben, malt gerne. Hannah, zehn, spielt Fußball. Jonathan will Zeichner werden. Hannah möchte werden wie Lukas Podolski. Das ist ihr Lieblingsspieler. Sie kommt mit den anderen Mädchen aus der Kabine, bindet sich vor dem Training noch einmal ihre Schuhe, dann läuft sie auf den Platz, nimmt einen Ball mit rechts an und schießt mit links in eines der Tore. Am Spielfeldrand steht Kristina Kratz-Kessemeier, die Trinkflasche ihrer Tochter in der Hand, und sagt: "Hannah ist beidfüßig. Das hat sie sich selbst beigebracht." Im Wohnzimmer mit einem Stoffball von Ikea. Hannah und ihre Eltern leben in einer geräumigen Altbauwohnung in Prenzlauer Berg. Marcus Schröder wohnt mit seiner Frau und den beiden Söhnen, Justin und Lenny, neun und vier, im selben Haus, in dem er schon zu DDR-Zeiten mit seinen Eltern wohnte. 84 Quadratmeter. Linienstraße, eine Kindheit in der Platte. In einem dieser plötzlichen Flachbauten, Fremdkörper im Altbau-Straßenbild. Er, die Haare kurz, den Bleistiftbart um Kinn und Lippen penibel rasiert, ist einer von denen, die er selbst Kiezkinder nennt. Einer von hier, den sie alle nur mit seinem Nachnamen ansprechen. Der Schröder. Als wäre das ein Titel, den man sich erst noch verdienen muss. Am Mittwoch vor seinem Spiel steht der Schröder vor dem Eingang des Bero, der Platz liegt im Dunkeln. Er ist heute gesperrt. Betriebsversammlung der Platzwarte. Schröder hat seine Jungs deshalb zum Laufen geschickt. Zehn Kilometer durch die Stadt. Er hat jetzt eine Stunde Zeit für einen Kiezspaziergang, einmal den ganz großen Bogen um den Platz. Schröder läuft zur Torstraße, rechts runter dann, Richtung Rosenthaler Platz. Früher hörte die Welt dahinter auf. Früher, sagt Schröder, kannte ich hier jeden.

Er läuft an einem Café vorbei und sagt: Das war unser Jugendklub. Er läuft am Muschi Obermaier vorbei, eine der ersten Bars an diesem Stück der Torstraße. Eröffnet 2007. Ein Markstein im Wandel hin zur Amüsiermeile. Er hört gedämpfte Musik hinter schwarz verhangenen Fenstern und sagt: Das war mal unsere Kneipe. Der Laden für die Rostock-Fans. Bier und Fußball bei Schuppe. Da war er jedes Wochenende. Im Muschi Obermaier war Schröder noch nie.

Dann fing es an, ganz plötzlich.

Einer von hier. Für Schröder gelten noch die alten Tugenden und Werte: Kameradschaft und Zusammenhalt. Bero, das ist seine Familie
Einer von hier. Für Schröder gelten noch die alten Tugenden und Werte: Kameradschaft und Zusammenhalt. Bero, das ist seine Familie

© William Veder

Wenn sich Schröder so durch Mitte bewegt, ist es, als laufe er durch einen Zeitkorridor, er ist da, gehört aber nicht dazu, er sieht die neuen Läden, die Boutiquen, Galerien und kann damit nichts anfangen. Es berührt ihn nicht. Es umgibt ihn nur. Er, fremd im eigenen Kiez, sieht in die Schaufenster und sieht nicht, was ist, sondern, was war. Hoch zur Auguststraße. Clärchens Ballhaus. Hier sieht man den Bero wieder zwischen den Bäumen. Hier steht hinter dem Tor und einer kleinen Tartanfläche zum Aufwärmen ein graues Gebäude mit einer Glasfront, durch die man direkt auf den Platz schauen kann: Der Me Collectors Room, das Privatmuseum der Wella-Erben. Früher, sagt Schröder, stand hier die alte Fischfabrik. "Da sind wir als Jugendliche drinne immer saufen und kiffen gegangen." Sein Blick klettert die Fassade entlang, über Balkone, auf denen ab und an die Bälle landen, wenn seine Spieler mit Kraft auszugleichen versuchen, was ihnen an Technik fehlt. Für seinen Monatslohn könnte Schröder sich da oben einhundert mal einhundert Zentimeter neue Mitte kaufen. Wenn das mal reicht, sagt er. Vor dreizehn Jahren, erinnert sich Schröder, er hatte gerade die Schule verlassen, neunte Klasse, fing es an. Die ersten Wohnungen, die sich keiner mehr leisten konnte. Die ersten Nachbarn, die nicht mehr da waren. Tante Ingrid von gegenüber: weg. Onkel Wolfgang von unten: auch weg. Umgezogen nach Hellersdorf, Marzahn, Hohenschönhausen. Es war, als ob ein ganzes Viertel umgesetzt wurde. Statt der Kiezkinder kamen Erwachsene aus dem Westen.

Bei uns in der Linienstraße konntest du noch die Einschusslöcher in den Fassaden sehen, sagt Schröder, dann haben sie angefangen, viel zu machen.

Was macht ein Verein, wenn er sein Gebiet verliert?

Früstücksdirektor und Guten-Abend-August. Vor allem aber Hansdampf in allen Gassen Mittes. Thomas Meyer, 49 Jahre alt, ist seit 2006 Präsident von Berolina.
Früstücksdirektor und Guten-Abend-August. Vor allem aber Hansdampf in allen Gassen Mittes. Thomas Meyer, 49 Jahre alt, ist seit 2006 Präsident von Berolina.

© William Veder

Thomas Meyer ist genau zu jener Zeit nach Mitte gezogen, die 90er auf der Zielgeraden, als die Zukunft gerade im Augenwinkel der Gegenwart zu flimmern begann. Wie bei einem alten Fernseher, dessen Schwarz-WeißBild von den Rändern her koloriert wird. Das war doch typisches Bero-Gebiet, sagt Meyer. Von hier bis hoch zur Chausseestraße, zum Stadion der Weltjugend, längst abgerissen, wo heute der BND sitzt. Lange her. Was aber macht ein Verein, wenn ihm sein Gebiet verloren geht? Meyer, 49 Jahre alt, geboren in Osnabrück, arbeitet als Rechtsanwalt in einer Kanzlei am Hackeschen Markt. Und ist seit sieben Jahren der Präsident des SV Blau Weiß Berolina Mitte. Einer, der den Laden zusammenhält, sagen die Leute. Guten-Abend-August und Frühstücksdirektor, sagt er, das beschreibt es am besten. Ist natürlich das geübte Understatement eines Volljuristen, der ganz selbstverständlich polierte Lederhalbschuhe zu Jeans und Berolina-Trainingsjacke trägt. Spieltagskluft. Am Samstag, kurz nach eins, steht er am Platz und schaut sich das Spiel der Mädchen-E-Jugend an. Hannahs Mannschaft. Sieht Kristina Kratz-Kessemeier aufgeregt am Spielfeldrand, sieht viele Tore, sieht eine Erfolgsgeschichte. Sein Bero, auch ein Neuanfang, der, so ist das ja meist, aus einer Krise erwächst. Wir waren immer sehr viele Kinder, sagt Marcus Schröder, das Kiezkind. Aber dann sei das abgeschlafft. Man habe das richtig gemerkt. Diesen Schwund. Das Ausbluten. Anfang des vergangenen Jahrzehnts, als die Kostenexplosion die Kinder und Enkel der Alteingesessenen an den Rand drückte. Und mit einem Mal schwer wurde, was vorher so einfach war: Der Vater brachte seinen Sohn zum Training, der Sohn bekam selbst einen Sohn und brachte auch diesen zum Training. Bero als Teil der DNS. Auch Marcus Schröder kam ja damals, 1991 gleich, "’nen kleener Stift noch", an der Hand des Bruders. Der Verein wurde Familie. Ganz normal.

Nun aber bekam diese Familie keinen Nachwuchs mehr. Und der Verein, drohende Überalterung, musste sich einer Realität öffnen, in der aus den alten Brachen neuer Wohnraum geworden war. Teurer Wohnraum. Genau deshalb ist Thomas Meyer zu Berolina gekommen. 2003 von Fortuna Pankow. 2006 dann wurde er Vorsitzender des Vereins. Mit einer klaren Aufgabe. Er sollte den notwendig gewordenen Wandel vorantreiben. Vor allem aber sollte er diesen Wandel moderieren. Brücken schlagen, sagt er. Ihm war ja durchaus bewusst, dass er hier eine Versuchsanordnung betreute, die ihm mächtig um die Ohren fliegen konnte.

Neue Kinder kommen.

Eine richtige Bero-Familie. Kristina Kratz-Kessemeier, ihr Mann, Joni und Hannah aus dem Bero. Laune: Sonnig. Sie sind gerne dort.
Eine richtige Bero-Familie. Kristina Kratz-Kessemeier, ihr Mann, Joni und Hannah aus dem Bero. Laune: Sonnig. Sie sind gerne dort.

© William Veder

Zu den entscheidenden Neuerungen, erste Amtshandlung des neuen Präsidenten, gehörte die Gründung der Minikicker für die Jahrgänge 1998 und aufwärts. Zudem wurden bald die ersten Mädchenteams aufgebaut. Besonders dieser Schritt bedeutete für den Verein, sonst Arbeiterschweiß, Schlacke und Blut auf den Stutzen, eine kleine Revolution. Die Zahl der Mitglieder hat sich seit 2006 von 635 auf 1165 fast verdoppelt, seit der Wende nahezu vervierfacht. Die schöne neue Bero-Welt, sie profitiert nun vom Verschwimmen der Grenzen, der Auflösung des Kiezbegriffes, davon, dass sie nun tatsächlich mittendrin liegt. Zwischen Metropolitan und Cosmopolitan School, zwischen Monbijou-Platz, Friedrichstraße, Kastanienallee. Neue Kinder kommen. Kinder wie Hannah. Hannah, die Linksaußen spielt wie Podolski, logisch. Hannah, die, das sagt ihr Trainer, bei Bero einen Zehnjahresvertrag hat. Hannah: kurze blonde Haare, lange Schritte. Kopf ihrer Mannschaft. Sie verfügt über den natürlichen Bewegungsablauf guter Fußballer, dieses Fließende, das man nicht lernen kann. Instinkt, Begabung. Es gibt viele Namen dafür. Schon im Kindergarten hat sie mit den Jungs gespielt. In der Grundschule, in jeder Pause. Der Fußball ist ein Teil von ihr. Warum, das weiß sie gar nicht. Ist halt so. Irgendwann wurde das Wohnzimmer zu klein, der Stoffball zu weich, waren die Jungs auf dem Pausenhof allein keine Gegner mehr. Hannah wollte richtig spielen. Der große Wunsch. Hannah hat so eine Liebe für den Fußball, dass ich ihr gerne einen Raum dafür geben wollte, sagt Kristina Kratz-Kessemeier. Gar nicht so einfach. Als Hannah sieben Jahre alt ist, beginnt eine lange Suche. Kristina Kratz-Kessemeier und ihr Mann mit Hannah an der Hand, schauen sich um, treffen auf Trainer mit Fluppe im Maul, auf grölende Betreuer. Auf den harten Osten in Lichtenberg, auf die Kreisliganormalität Berlins. Die Sprache: hart. Der Ton: rau. Die Trainer: verquollen. Sie suchen ja nicht nur einen Verein. Ein bisschen Rasen, ein paar Tore. Sie suchen einen Ort, genau richtig für ihre Tochter. Den aber, denken sie bald, am Rande der Plätze am Rande der Stadt, am Rande der Ratlosigkeit, finden sie nie. Dann finden sie Bero.

Den Bero, diese Oase. Finden hier, 2011, Thomas Meyer und dessen heile Welt. Einen Verein, der da bereits das schizophrene Kunststück fertiggebracht hat, sich gleichzeitig von der eigenen Vergangenheit, der harten Ostigkeit, der Fluppe im Maul zu emanzipieren, mit offenen Armen einen Schritt nach vorne, und sich dabei doch den eigenen Charakter, den Charme des Dorfvereins erhalten hat. Finden hier nicht weniger als den Mädchenfußball, wie sie ihn sich vorgestellt haben. Ein Inselchen, sagt Kristina Kratz-Kessemeier. Organisiert von Leuten, die ihre Sprache sprechen. Nicht hart, nicht rau. Leute, die es hier zehn Jahre zuvor nicht gegeben hätte: den Leiter der Waldorfschule oder Hannahs heutigen Trainer, Fernsehredakteur, positiver Motivator. Keine Kraftausdrücke. Menschen, für die der Sport auch die Erweiterung ist zur musisch-künstlerischen Erziehung des Kindes. Montags Geige, mittwochs Akkordeon, dazwischen Bero. Wie wunderbar das allein klingt: Bero. Die Sprache so weich. Selbst der Ton macht hier Musik.

Algerier, Spanier, Türken - das hätte es früher nicht gegeben.

Eine richtige Bero-Familie: Schröder mit Justin und Lenny. Für seine Söhne ist der Bero genauso Spielplatz wie er es schon für das Kiezkind Schröder war.
Eine richtige Bero-Familie: Schröder mit Justin und Lenny. Für seine Söhne ist der Bero genauso Spielplatz wie er es schon für das Kiezkind Schröder war.

© William Veder

Aus Schröders Stereoanlage, die er wie an jedem Spieltag auf die Stufen vor der Kabine gestellt hat - es ist jetzt halb drei, noch 90 Minuten bis zu seinen 90 Minuten -, ballern gnadenlose Basslinien. Großraumtechno wie eine Faust in die Magengrube. Seine Straße, sein Zuhause, sein Block. Sein Verein. Gehört dazu. Danach, eine Selbstverständlichkeit, zur Einstimmung: der Bero-Song. Fieser Synthie-Schlager von Dietmar Mechler, der sich nur an einem Ort wie diesem nicht albern, sondern genau richtig anfühlen kann. Schröder kennt natürlich den ganzen Text: "Egal wo wir steh’n, wir kommen immer wieder." Schröder singt mit. "Das weiß doch jedes Kind, dass die besten Spieler bei Blau Weiß Mitte sind." Nicht zu überhörende Markierung des Reviers. Nach und nach treffen auch seine Spieler ein: Jaime und Hernan, die Spanier, die Schröder, Klassiker, natürlich mit Señorita begrüßt. Dann Howie, sein Stürmer, dunkle Haut, schwarzer Afro, den Schröder aber der Einfachheit halber nur Paul nennt. Und Berri, Algerier, Moslem, sein Spielmacher, der zu Hause in Nizza in der vierten französischen Liga gespielt hat und eigentlich viel zu stark ist für die Kreisklasse. Er studiert in Berlin und ist Teil dieser Mannschaft, weil er gerne bei Schröder spielt. So etwas hätte es hier früher nicht gegeben. 2009, Schröder spielte selbst noch, wurde die Dritte Männer Berliner Pokalsieger. Mit einer Mannschaft ganz ohne Fremde. Ersatzspieler in Thor-Steinar-Jacken. Der Strafraum: national befreite Zone. Es war schon sehr deutsch bei uns, sagt Schröder, wir hätten uns schwergetan, einen Ausländer in der Truppe zu haben. Aus dieser Mannschaft sind heute noch vier Spieler übrig. Ich habe jetzt eine Multikultitruppe, sagt Schröder, und ich bin verdammt stolz auf das, was sich hier entwickelt hat. Auch er hat sich schließlich geöffnet, angepasst an eine neue Zeit. Eine heile Welt. Und doch ist es so einfach nicht. Denn in den Stolz des Trainers Schröder mischt sich, das spürt man schnell, wenn man mit ihm über seinen Verein spricht, auch dieses Gefühl, dass dem Kiezkind Schröder etwas weggenommen wurde. Es war schwer für uns, sagt Schröder, die Neuen in unserem Element zuzulassen. Und so, wie er das sagt, unser Element, klingt es, ungewollt und doch gerade deshalb so ehrlich, als wären er und die anderen von früher, Fische in ihrem heimischen Gewässer, verdrängt worden von eingeschleppten Fressfeinden. Klassischer Darwinismus. Survival of the Hippest. "Wir kannten die doch nicht", sagt Schröder, "dabei kannten wir doch sonst immer alle." Vielleicht klingt so die Erkenntnis, dass der Verein zu groß geworden ist, um noch Familie zu sein. Schröder knüpft sein weinrotes Berolina-Banner an den Zaun. Dahinter stehen drei Leute. Im Vergleich zu den Morgenstunden, der Vormittagsgeschäftigkeit rund um die Jugendmannschaften, ist der Platz jetzt, vor dem Spiel der Männer, fast still geworden.

Guck dich mal um, sagt Schröder, merkst du was? Pause, dann: "Von den Neuen ist kaum noch jemand hier." Er schüttelt den Kopf. Immer das Gleiche. Der Zusammenhalt, sagt Schröder, war früher besser.

Heute steht die Freiberuflerin am Spielfeldrand.

Einmal Bero, immer Bero: Vor ein paar Monaten hat sich Schröder sein Leben unter die Haut stechen lassen.
Einmal Bero, immer Bero: Vor ein paar Monaten hat sich Schröder sein Leben unter die Haut stechen lassen.

© William Veder

Die Dritte Männer, das ist auch deshalb so dermaßen sein Ding, weil da noch die alten Werte gelten: Kameradschaft, Disziplin, Respekt, schöne Molle nach’m Spiel. Da hat er sich etwas von dem behalten, das Bero für ihn immer zu etwas Besonderem gemacht hat. Und dann erzählt Schröder, während sich seine Spieler umziehen und er das erste Mal an diesem Tag über den Platz läuft, von seiner Mutter, die heute in der Wohnung über ihm lebt, das Viertel nicht verlassen will, weil sie gar nicht wüsste, wo sie sonst leben sollte. Erzählt von einer Frau, die vier Jobs hatte, um den Unterhalt für die Familie zu verdienen, weil der Vater, ein Kneipenschläger, sie verlassen hatte, als Schröder gerade ein Jahr alt war. Die als Erzieherin in der Krippe gearbeitet hat und nachts als Putzfrau in einer Schwulenkneipe. Und die, wenn sie dann am Wochenende auf den Platz kam, trotz allem für jeden etwas dabeihatte: Kaffee für die Eltern, Kuchen für die Kinder, Obst für die Halbzeit, Tee für den Winter. Und heute, fragt Schröder am Ende seiner Erzählung. Und heute? Nichts. Jeder macht sein Ding, sagt Schröder. So sieht er das. Kristina Kratz-Kessemeier arbeitet als Freiberuflerin. Sie kann sich ihre Zeit so einteilen, dass sich Arbeit und Fußball gut miteinander vertragen. Das muss sie auch: zwei Mal Training bei Berolina, am Samstag Spiel, dazwischen, so nennt sie das, Orgakrams. Mittlerweile trainiert Hannah zudem einmal in der Woche im Leistungszentrum der Berliner Auswahl. Nebenprodukt des Erfolgs ihrer Mannschaft, die im vergangenen Jahr Berliner Meister geworden ist. Danach gab es bei Bero einen richtigen Hype um die E-Jugend, sagt Kristina Kratz-Kessemeier. Es gibt viele hier, die sind richtig stolz auf den Mädchenfußball. Sie investiert etwa zehn, fünfzehn Stunden pro Woche in den Sport ihrer Tochter. Auch heute ist sie ja lange vor dem Spiel gekommen, hat die Kabine aufgeschlossen, den Spielberichtsbogen ausgefüllt, sich um die Trinkflaschen gekümmert.

Nun sitzt sie, eine halbe Stunde nach dem Abpfiff, die Kinder noch unter der Dusche, mit ihrem Mann, Hannahs Trainer und zwei anderen Eltern draußen an einem der Holztische. Stammtisch mit Apfelschorle. Ein paar Neue, die geblieben sind. Die Ausnahme in Schröders Regel.

Am Nachmittag ist Schichtwechsel: Die Neuen gehen, die Alten kommen.

Einmal Bero, immer Bero. Vor ein paar Monaten hat ihr eine Mitspielerin die Mütze geschenkt. Hannah trägt sie jeden Tag.
Einmal Bero, immer Bero. Vor ein paar Monaten hat ihr eine Mitspielerin die Mütze geschenkt. Hannah trägt sie jeden Tag.

© iFoto:William Veder

Langsam, nach und nach, erscheinen die ersten Zuschauer, denen man ansieht, dass sie eher nicht am Mädchenfußball interessiert sind, Gesichter aus einer Zeit, als Frauen in Stollenschuhen in dieser Gegend den Seltenheitswert von Zitrusfrüchten besaßen. Sie tragen Anoraks in den gedeckten Farben des Kalten Krieges, die tatsächlich aussehen, als stammten sie aus dem Restbestand des MfS. Und die fünf Menschen an ihrem Holztisch wirken dazwischen auf einmal wie eine der Reisegruppen, die sich hin und wieder in dem Irrglauben, das wäre der bequemste Weg von der Tor- zur Auguststraße, auf den Platz verirren. Was hier beginnt, ist nichts anderes als ein vollständiger Schichtwechsel. Die Vormittage gehören den Kindern, die Nachmittage den Herren. Unser Bero, sagt Kristina Kratz-Kessemeier, sind die Mädchen. Von den Männermannschaften bekommen wir nicht so viel mit. Wir sind hier eine Gemeinde für uns. Eigentlich ist es ganz einfach, sagt Schröder, es gibt Bero Mitte und SV Blau Weiß Berolina Mitte. Das eine ist das Herz seit vielen Jahren, dit von früher. Und dann die anderen, das sind die, die generell so im Verein rumschwimmen. In seinem Element. Früher bist du auf den Bero gegangen und dann geblieben, sagt Schröder vor der Kabine, in der sich seine Spieler umziehen, da war man den ganzen Tag, da hat man geschnackt und nachher ist man mit den Kindern noch essen gegangen.

Die Kinder verbringen viel Zeit auf dem Bero, sagt Kristina Kratz-Kessemeier, wenn es nach den Mädchen ginge, könnten wir immer länger bleiben.

In der Kneipe sind alle gleich. Nur Union nicht.

Ein Raum wie eine Kutte. Ralle und Frankie führen die Vereinskneipe seit 14 Jahren. Sie sagen: Hier sind alle gleich. Meist treten die Brüder gemeinsam auf. Nicht im Bild: Ralle.
Ein Raum wie eine Kutte. Ralle und Frankie führen die Vereinskneipe seit 14 Jahren. Sie sagen: Hier sind alle gleich. Meist treten die Brüder gemeinsam auf. Nicht im Bild: Ralle.

© iFoto:William Veder

Auch heute ist wieder einer dieser Tage, in denen der Morgen in den Nachmittag fließt. Kristina Kratz-Kessemeier, die schwere Sporttasche noch immer neben sich auf dem Tisch stehend, könnte jetzt auch nach Hause gehen. Wird aber nichts. Denn die Kinder, der Mann, die wollen noch Hertha schauen. Bei Ralle und Frankie, Vereinskneipe seit 14 Jahren. Ralle und Frankie, Brüder hinter dem Tresen, die mit der Seelenruhe der Wirtshausstoiker Biere zapfen, Würstchen warmmachen, und, wenn mal nichts zu tun ist, rausgehen und schauen. Dort stehen, neben der alten Eiche, die ihnen vom Charakter her wohl am nächsten kommt. Bei Ralle und Frankie, das ist aber auch Begegnungsort. Hier trifft man sich dann doch.

Wenn Ostalgie Schal wird. Und das Bier trotzdem schmeckt. Die Vereinskneipe auf dem Bero ist auch: Asservatenkammer eines längst vergangenen DDR-Gefühls.
Wenn Ostalgie Schal wird. Und das Bier trotzdem schmeckt. Die Vereinskneipe auf dem Bero ist auch: Asservatenkammer eines längst vergangenen DDR-Gefühls.

© William Veder

Ralle und Frankie sagen: Bei uns sind alle gleich. Alt oder Neu. Groß oder Klein. Union oder Hertha. Ihnen doch egal. Die Kneipe, das ist, inmitten des Fußballirrsinns der lautstarken Zugehörigkeitsfolklore, ein ganz zauberhaft neutraler Raum, an dem der BFC-Wimpel tatsächlich neben dem Barcelona-Schal hängt. An dem sowieso alles vollhängt, unter der Decke, auf der in großen blauen Lettern die große blaue Wahrheit steht: einmal Bero, immer Bero. Die Kneipe, ein Raum wie eine Kutte. Es ist Junggesellen-Zeit. Fußball schauen, sich anpöbeln, am Bier festhalten. Deshalb Bundesliga. Darum halb vier. Nichtraucherlokal. Betreutes Trinken. Alles Tradition.

Ralle und Frankie nennen ihn Van Gogh. Joni, 7 Jahre alt, will Zeichner werden. Am Samstag sitzt er in der Kneipe und schaut Hertha. Vielleicht wird er auch Torwart.
Ralle und Frankie nennen ihn Van Gogh. Joni, 7 Jahre alt, will Zeichner werden. Am Samstag sitzt er in der Kneipe und schaut Hertha. Vielleicht wird er auch Torwart.

© William Veder

Hier sitzt das alte Bero. Männer, die, meist jenseits der 40, doch immer noch etwas haben von den Jungs, die sie einmal waren, als der Platz dort draußen ihnen noch die Knie aufriss. Männer, die heute nur noch Netze oder Manmunkelt heißen, weil die anderen ihre echten Namen einfach irgendwann vergessen haben. Das alte Bero trägt Camp David, das alte Bero trinkt Bier, das alte Bero schaut jetzt Hertha, jubelt aber für den BFC Dynamo. Über Union redet das alte Bero nicht. Das war schon immer so. Dazwischen sitzen die Kinder, sitzen Jonathan, im Trikot des Hertha-Torwarts Kraft, und Hannah mit einem Wurstpappteller in der Hand. Dazwischen sitzt auch Hannahs Vater, um den Hals seinen blau-weißen Berolina-Schal, den er sich vor ein paar Monaten hier gekauft hat.

Er, der nie Fußballer war, sich früher furchtbar aufregen konnte, wenn die Abendnachrichten darüber berichteten, gleich nach Merkel und Irak, Brennpunkt Ballack, hat sich, das passiert ja, bei seiner Tochter angesteckt. Und wenn es die Zeit erlaubt, geht er mit den Kindern ins Olympiastadion. Nicht immer nur, weil die es unbedingt wollen.

Ein ganz anderes Bero

Breites Kreuz, großes Herz, Vollgas-Trainer. Berolina ist Schröderland und in Schröderland ist Fußball immer auch Kampf, ein 90minütiger Tanz an der Seitenlinie.
Breites Kreuz, großes Herz, Vollgas-Trainer. Berolina ist Schröderland und in Schröderland ist Fußball immer auch Kampf, ein 90minütiger Tanz an der Seitenlinie.

© William Veder

Und die Mama? Sitzt jetzt, kein Hertha-Fan, draußen auf einer Bank und schaut Dritte Männer. Zum ersten Mal. Zehnter Spieltag. Pflichtaufgabe gegen die Berliner Amateure. Links von ihr tanzt Schröder seine Choreografie des Vollgas-Trainers. Schröder: in seinem Element. Das ist ein ganz anderes Bero, sagt sie, das merkste richtig. Ganz andere Pass- und Schusshärte, ganz andere Körperlichkeit. Und Kraftausdrücke. Eine andere Welt, ganz nah. Ganz lustig sogar. Kurz schaut sie durch das Kneipenfenster. Alles in Ordnung. Wir sind gerne hier, sagt sie. Kristina Kratz-Kessemeier, ihr Mann, Hannah und Jonathan sind in den vergangenen drei Jahren eine Fußball-Familie geworden. Eine echte Bero-Familie. Schlusspfiff. Schröders Mannschaft hat trotz des schlechten Gefühls hoch gewonnen. Vor der Kabine riecht es nach Ehrgeiz, wird Bier aus Flaschen getrunken, die Musik wieder angeschaltet. Schröder klatscht seine Spieler ab. Das Flutlicht geht aus. Kristina Kratz-Kessemeier, ihr Mann, Hannah und Jonathan verabschieden sich bei Ralle. Sie nimmt die Tasche, er den Sohn an die Hand. Sie laufen zum Auto, vorbei am Lokal an der Ecke, das wirklich so heißt. Lokal. Ein Restaurant mit Hirschbraten für 18 Euro, vorbei an den Galerien, den Cafés mit Bio-Latte. Am Dienstag werden sie wieder hier sein. Auch Schröder muss nach Hause. Abendessen. Runterkommen. Am Montag ist er wieder hier.

Vor ein paar Monaten hat sich Schröder sein Leben unter die Haut stechen lassen. In dunklem Blau. Auf die Wade. Das Vereinsemblem. Aus Tinte. Ball und Brandenburger Tor. SV Blau Weiß Berolina. Das ist sein Verein. Er ist hier aufgewachsen. Vor ein paar Monaten hat Hannah von einer Mitspielerin eine Mütze geschenkt bekommen. Sie trägt sie jeden Tag. Dunkelblauer Stoff. Das Vereinsemblem. Selbst gestickt. Ball und Brandenburger Tor. SV Blau Weiß Berolina. Das ist Hannahs Verein. Sie wächst hier gerade auf.

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