zum Hauptinhalt
296920_0_3239218a.jpg

© Michael Koerner

Historiale: Das ist die Krönung

Dieses Wochenende erreicht die Historiale ihren Höhepunkt: Wilhelm II. fährt durchs Brandenburger Tor – und beantwortet Fragen.

Normalerweise sitzt Jan Eberhardt tagsüber im Büro und entwickelt Software für eine große Krankenkasse. An diesem Wochenende aber verwandelt sich der 39-jährige Steglitzer für drei Tage in den einst mächtigsten Mann Deutschlands: Als Kaiser Wilhelm II. wird er diesen Freitag um 15 Uhr durch das Brandenburger Tor ziehen, in einer Kutsche sitzend und stürmisch umjubelt vom Volk und seinen Soldaten. Er ist einer von 300 Darstellern, die auf dem Historiale-Markt im Nikolaiviertel die Kaiserzeit wiederaufleben lassen und zuvor eine große Parade auf dem Pariser Platz abhalten wollen. Er ist also einer unter vielen, gleichzeitig aber einer der Wichtigsten.

Für Jan Eberhardt ist es eine Premiere. Noch nie hat er historische Figuren gespielt. Der Grund, warum ausgerechnet er für die Rolle ausgewählt wurde, ist ein anderer: Seit neun Jahren verschlingt er in seiner Freizeit jedes Buch zur Kaiserzeit, das er in die Hände bekommt. Besonders Wilhelm II. hat es ihm angetan, seitdem er einen Dokumentarfilm über den letzten deutschen Kaiser gesehen hat. Eberhardt sammelt alles über ihn. „Und dann habe ich Anfang des Jahres diesen Artikel in der Presse gelesen“, erzählt er. Die Organisatoren des Geschichts-Festivals Historiale suchten per Zeitungsanzeige nach einem Wilhelm II.-Experten.

Hintergrund der Annonce: Auf der diesjährigen Historiale wird ein außergewöhnliches Projekt getestet. Mehrere Darsteller schlüpfen in die Rollen historischer Berühmtheiten wie Otto von Bismarck, Werner von Siemens oder Heinrich Zille und lassen sich interviewen. Auf der Bühne vor der Nikolaikirche müssen sie nicht nur auf einstudierte Fragen antworten, sondern sich auch den Fragen des Publikums stellen – und möglichst genauso antworten, wie es die historischen Vorbilder getan hätten. Um dieser Anforderung gerecht zu werden, müssen die Darsteller viel über die nachgeahmten Personen wissen.

Jan Eberhardt wusste sehr viel. Im Februar setzte er sich in einem Wissenstest gegen mehrere Bewerber durch und ergatterte die Rolle des Kaisers Wilhelm II. Seitdem büffelt er in jeder freien Minute, damit er auf der Bühne für alle denkbaren Fragen eine passende Antwort parat hat. Die Messlatte legt er hoch: „Ich will so viel wie möglich mit Originalzitaten antworten.“

Am Sonnabend und Sonntag wird sich auf dem Historiale-Markt vor der Nikolaikirche zeigen, ob sich die Mühe gelohnt hat. Bis dahin versucht Eberhardt, sich zu entspannen – und möglichst viel von der Historiale mitzubekommen. Das Festival läuft seit Montag und endet Sonntagabend. Bisher wurden Filme gezeigt, Museums- und Stadtrundgänge angeboten und Theaterstücke aufgeführt. Auf einem Kongress hielten Experten Vorträge über Politik und Gesellschaft zwischen 1871 und 1918. Die heutige Parade gilt als der bisher spektakulärste Teil des Programms, neben Wilhelm II. sollen auch die Ex-Kaiser Wilhelm I. und Friedrich III. durchs Brandenburger Tor ziehen – jeder in seiner eigenen Kutsche, begleitet von Gattinnen, Generälen und Adjutanten. Wer die Staatsmänner nicht auseinanderhalten kann: Wilhelm II. hat die größte Kutsche mit vier Pferden. Seine weiße „Garde du Corps“-Uniform hat sich Jan Eberhardt übrigens von den Filmstudios Babelsberg geliehen.

„Wir wollen jedem etwas Interessantes bieten“, erklärt Organisator Wieland Giebel die Programmvielfalt. Geschichtsstudenten, Touristen und Schulkinder sollen gleichermaßen angesprochen werden. Dass dieses Konzept funktioniert, haben die vergangenen Jahre gezeigt. Zu der Premiere des Festivals 2006, als Napoleons Einzug in Berlin nachgespielt wurde, kamen gleich 30 000 Besucher. Es folgten die Festivalthemen „Die preußischen Reformen“ (2007) und „160 Jahre Märzrevolution“ (2008) – und immer mehr Menschen kamen zu den Veranstaltungen. In diesem Jahr rechnen die Organisatoren mit 70 000 Besuchern. „Viele Stadtführungen waren ausgebucht, und auch an den Kinoabenden war es brechend voll“, zieht Johannes Großer, Projektleiter der Historiale, ein positives Zwischenfazit.

Veranstaltet wird das Festival von der Verlagsbuchhandlung „Berlin Story“. Sie sponsert auch den Großteil der 200 000 Euro, die das Spektakel kostet. Trotzdem wäre es ohne die freiwillige Mitarbeit von hunderten Helfern und Laiendarstellern nicht möglich. Auch Jan Eberhardt wird für seine monatelangen Vorbereitungen und den Auftritt am Wochenende nicht bezahlt. „Warum auch, es macht doch unglaublichen Spaß“, sagt er achselzuckend. Dass er sich so stark für die Kaiserzeit interessiert, hat vielleicht auch etwas mit seinem Bürojob zu tun: „Die gesetzliche Krankenversicherung wurde schließlich schon 1883 eingeführt“, sagt er schmunzelnd.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false