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Internet: Das Lesen ist schön

Im Netz können Berliner ihre Lieblingstexte vortragen. Hunderte haben es schon ausprobiert. Wie Olaf Schwarzbach, alias OL, der mit angenehm dunkler Stimme vorträgt oder ein Hindu-Priester, der seine Lesung mit einem heiteren Om beginnt.

Was haben Hindus, polnische Unternehmerinnen und Beton-Experten gemeinsam? Sie lesen. Genauer gesagt: Sie lesen vor – und lassen sich dabei filmen. Das Ergebnis kann man im Internet sehen: Wer auf www.volksLesen.tv klickt, hat mehr als 170 Videos zur Auswahl. Das sind 170 Geschichten.

Zum Beispiel die von Olaf Schwarzbach. Der Berliner, der eigentlich Cartoonist ist und sich OL nennt, liest mit angenehm dunkler Stimme und leichtem Berliner Dialekt: „Die Sonne schien, da sie keine andere Wahl hatte, auf nichts Neues. Murphy saß, als ob es ihm frei stünde, im Schatten einer Gasse.“ Das ist aus einem Roman von Samuel Beckett. Im Video verrät Schwarzbach auch, warum er sich für dieses Buch entschieden hat: „Ich lese das alle zehn Jahre.“ Und jedes Mal sei er aufs Neue gespannt, wie die Geschichte ausgeht.

„Die Seite ist ein Panoptikum des lesenden Volkes“, sagt Martin Scharfe, 39, Erfinder und seit Januar Macher von VolksLesen.tv. Es geht ihm nicht darum, möglichst prominente Vorleser zu finden – jeder darf mitmachen und den Ausschnitt vorstellen, der ihm etwas bedeutet. Eine Beton-Expertin liest aus einem Buch über Architektur, ein Vertreter des Berliner Bart-Clubs aus Theodor Storms „Knecht Ruprecht“, eine Hebamme aus Brechts „An die Nachgeborenen“. Die Textstellen hängen aber nicht automatisch von den Berufen der Teilnehmer ab: Gelesen wird anspruchsvolle Literatur von Tschingis Aitmatow bis hin zu Stefan Zweig. „Die Leute entscheiden sich in der Regel nicht für den Urlaubskrimi vom Vorjahr“, sagt Scharfe. Erich Kästner führt, auch Tolstoi ist mehrfach dabei, Goethe hat es bisher zweimal auf die Seite geschafft.

Die Idee zu VolksLesen.tv kam Martin Scharfe, als ihn eines Abends eine Freundin bat, ihr vorlesen. Da merkte der Ingenieur aus Prenzlauer Berg, wie viel Spaß das macht. Er fragte Freunde, ob sie nicht auch lesen möchten. Und natürlich brauchte es auch eine Plattform, um das Gelesene anderen zugänglich zu machen. „Die Seite wird eine Art Zeitbild“, sagt er. „In ein paar Jahren kann man hier sehen, wie und was die Leute gelesen haben“.

Scharfe ist nicht der einzige, dem die Sache Spaß macht. Die Vorleser präsentieren ihre Texte mit heiterem Ernst, ein Hindu-Priester schickt ein Om voraus. Manche tragen holpriger und schüchtern vor, manche rezitieren, manche sprechen sogar verteilte Rollen. Um die Seite spannender zu gestalten, fragt Scharfe unterschiedlichste Gruppen, ob sie lesen: Lebenskünstler, Puppenspieler oder auch mal Individualisten.

Um bloßes Entertainment soll es nicht gehen. Wer die Seite besucht, kann vielleicht ein Buch neu entdecken und hin und wieder auch ein kleines Juwel finden. Die 98 Jahre alte Schriftstellerin Elfriede Brüning etwa liest mit rauer Stimme aus einem eigenen Text über die Bücherverbrennung, deren Augenzeugin sie 1933 war. „75 Jahre sind vergangen seither, ein ganzes Menschenalter. Und doch stehen mir die Bilder jenes verhängnisvollen Tages vor Augen, als wäre alles gestern gewesen.“

Martin Scharfe finanziert die Seite bislang selbst. Jeden Sonntag stellt Martin Scharfe neue Lesungen ein. Wer selbst einen Text vorlesen möchte, kann sich bei Scharfe melden. Der kommt dann vorbei und baut seine Kamera auf. Zu Hause, in der Kneipe oder zur Not auch in einem Taxi.

In den kommenden Wochen lesen Raucher, Rhönradfahrer und Models. Nur bei Feuerwehr und Deutscher Bank hat sich trotz Anfrage bisher keiner gefunden, der sich vor die Kamera traut. Besonders freue er sich auf nächstes Jahr, sagt Scharfe. Im Januar, zum 100. Geburtstag des Erfinders der Blindenschrift Louis Braille, lesen Blinde.

Die Videos kann man kostenlos auf www.volksLesen.tv anklicken.

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