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Kirche: Das Wunder von Prenzlauer Berg

Im Szenebezirk Prenzlauer Berg treten immer mehr Menschen der Kirche bei. Die Gemeinde ist mittlerweile eine der jüngsten in Deutschland.

Sonntag für Sonntag beobachten die Latte macchiato schlürfenden Gäste in den Cafés in der Stargarder Straße das gleiche Schauspiel. Kurz vor elf Uhr strömen Menschen an ihnen vorbei, Frauen schieben Kinderwagen, Väter führen ihren vorsichtig tapsenden Nachwuchs an der Hand. Das gemeinsame Ziel: die Gethsemanekirche in Prenzlauer Berg.

Umrankt von gepflegtem Grün, steht das Ende des 19. Jahrhunderts im einstigen Arbeiterbezirk erbaute Gotteshaus auf einem kleinen Platz. Immer wieder freut sich Pfarrer Christian Zeiske über den idyllischen Ort zwischen den früheren Mietskasernen. Zwei Ehrenamtliche halten die Anlage in Schuss. Doch es ist nicht nur das imposante Erscheinungsbild des Baus und die Nähe zur S- und U-Bahn in der Schönhauser Allee, die die Gethsemanekirche attraktiv machen. Den enormen Zulauf hat die Gemeinde vor allem ihren kleinsten Mitgliedern zu verdanken.

Bis zu drei Kinder tauft Pfarrer Zeiske regelmäßig in seinen Gottesdiensten. Zeiske, graubärtig, schlank und großgewachsen, seufzt und ist doch glücklich: „Das bringen wir kaum noch unter einen Hut.“ Anfragen von Eltern, die zu anderen Gemeinden gehören, müsse er mittlerweile zurückweisen.

Zur frühstücksfreundlichen Zeit finden Woche für Woche bis zu zweihundert Personen den Weg in den Gottesdienst. Schwangere Frauen drücken sich mit dicken Bäuchen zwischen die Holzbänke, Eltern tragen ihre Kinder durch die Gänge. Manchmal wundert sich Pfarrer Zeiske über den Andrang. „Wir zaubern ja kein Kaninchen aus dem Hut.“ Auch breche man nicht mit Traditionen. Aber sie würden mit Leben gefüllt, sagt Zeiske: „Die Leute merken einfach, dass es hier stimmt, auch wenn sie nicht sagen können, was stimmt.“

Die Gethsemanekirche war schon immer nah am Leben. In der DDR trafen sich hier Oppositionelle, die Kirche war einer der Orte, von denen die friedliche Revolution 1989 ihren Ausgang nahm. Zuletzt geriet die Gemeinde vor vier Jahren in die Schlagzeilen. Während des Ökumenischen Kirchentags hatte hier ein katholischer Priester gemeinsam mit seinem evangelischen Kollegen die Abendmahlfeier veranstaltet, gegen den Willen des Papstes. Die katholische Kirche suspendierte den Priester später.

Solche Ereignisse machen offenbar Eindruck. Während die evangelische Landeskirche mit sinkenden Mitgliederzahlen zu kämpfen hat – im vergangenen Jahr standen 7000 Kirchenaustritte nur 1700 Eintritte gegenüber – stellt sich die Situation für Gethsemane anders dar. Seit dem Jahrtausendwechsel hat die Kirchengemeinde Prenzlauer Berg Nord, zu der neben der Gethsemane- auch die Eliaskirche, die Segens- und die Paul-Gerhardt-Kirche gehören, 4000 neue Mitglieder hinzugewonnen. Heute zählt sie rund 12 500 Mitglieder und ist eine der jüngsten Gemeinden in Deutschland. Menschen im Alter von 25 bis 35 Jahren bilden die Mehrheit in der Gemeinde.

Die Hinwendung der jungen Leute zum Glauben erklärt Pfarrer Zeiske unter anderem damit, dass sie zunehmend nach dem Sinn des Lebens fragten. „Immer mehr entdecken, dass das Leben mehr ist, als das, was sie tagtäglich vorfinden.“ Viele Ostdeutsche, die für ihr gelebtes Christsein in der DDR einen hohen Preis zahlten und zum Beispiel ihren Arbeits- oder Studienplatz verloren haben, hätten sich bewusst mit der Kirche auseinandergesetzt. „Heute kommen viele aus dem Westen, die sich gerade von diesem bekenntnishaften Charakter des Glaubens anziehen lassen“, sagt Zeiske.

Wie jung die Gemeinde ist, kann man sonntags im Gottesdienst erleben. Fast alle Besucher kommen nach vorn und bilden einen Kreis um das Taufbecken. Pfarrer Zeiske benetzt die Stirn des kleinen Rasmus mit Wasser. Aus den hinteren Reihen hört man glucksende Kinder. Eine Frau im grünen Sweatshirt wippt, ihr Baby vor den Bauch gebunden, auf und ab, um es zu beruhigen. Zeiske richtet sich an Rasmus’ Eltern. Er spricht herzlich, aber bestimmt. Auch ob sie dem Kleinen Musik nahe bringen wollen, will er wissen und lächelt. Er selbst hat während seines Theologiestudiums in München auch Kirchenmusik studiert. Das gemeinsame Singen spielt im Gottesdienst eine wichtige Rolle.

In seiner Predigt spricht der Pfarrer über das Johannes-Evangelium: Jesus heilt einen Mann, den seine vermeintliche Krankheit jahrelang ans Bett gefesselt hat. Zeiske deutet die Bibelstelle als Aufruf zum Kampf gegen die Trägheit. Als ob er selbst ihr größter Widersacher ist, gestikuliert der Pfarrer mit seinen Armen und spitzt die Finger.

Weil er sich über die Lebendigkeit in den Gottesdiensten freuen kann, blickt Zeiske gelassen auf das weltliche Treiben rund um Halloween. Das feiere er zwar nicht, aber verteufeln wolle er es genauso wenig: „Alles, was Kindern Spaß macht, ist an sich doch gut“, sagt er.

Den heutigen Reformationstag feiert die Gemeinde Prenzlauer Berg Nord mit einem Festkonzert in der Gethsemanekirche um 20 Uhr, Stargarder Str. 77. Gespielt wird unter anderem die Reformationssinfonie von Felix Mendelssohn Bartholdy. Karten kosten 8 Euro, ermäßigt 6 Euro.

Jan Teuwsen

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