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Stadtleben: Laufend Bach

Architekten setzen das Weihnachtsoratorium im Radialsystem in Szene

An diesem sonnigen Freitagvormittag treten die räumlichen Qualitäten des Radialsystems besonders gut hervor: Eine lichtdurchflutete Galerie, große Fenster, direkter Blick auf die Spree – alles wirkt wie eine Erinnerung daran, dass hier traditionelle Aufführungskonzepte von Musik durchleuchtet, verflüssigt und in Bewegung gebracht werden. Jetzt ist das Weihnachtsoratorium von Johann Sebastian Bach dran. Die freie Opernkompanie Novoflot wird den Adventsklassiker mit 120 Beteiligten aufführen – die bisher größte Produktion im Radialystem. Am Mittwochabend ist Premiere in der Holzmarktstraße in Friedrichshain.

„Auch wenn viele das Weihnachtsoratorium lieben, wissen doch die wenigsten noch etwas über den Glauben, um den es geht. Die Musik ist zu einem beschallenden Lallen auf der Bescherung geworden“, sagt Regisseur Sven Holm und spricht von einer Suche nach der Bedeutung des Oratoriums heute, von einem Weihnachtskuchen, der mit neuen Zutaten gebacken wird.

Eine dieser Zutaten ist das Architekturbüro Graft, das das Bühnenbild entworfen hat. Eine einzige Bühne wird es allerdings nicht geben. Die Besucher durchlaufen nach und nach das Gebäude. „Ich habe das Weihnachtsoratorium seit meiner Kindheit immer als ein ungemein geschlossenes Werk, als ein Gegenüber erfahren“, sagt Thomas Willemeit, einer der drei Gründer von Graft. „Eine Möglichkeit, das aufzubrechen, haben wir darin gesehen, die Besucher in den Rahmen, in die Szene hineinzuholen.“

Die Gäste der ausverkauften Inszenierung werden in zwei Gruppen aufgeteilt und Zeugen verschiedener Stationen des Oratoriums. Zugleich werden sie ungewöhnlichen Situationen ausgesetzt: Eine Betriebsweihnachtsfeier, die in die Hose geht, ein Gottesdienst, der plötzlich dunkel wird, Geschenke, in denen nichts drin ist. Bei aller Andersartigkeit: Vicente Larranaga, der musikalische Leiter, betont, dass während des gesamten Abends originaler Bach erklingen wird, interpretiert vom Hausensemble Kaleidoskop und vier Solisten. Für Thomas Willemeit ist der Übergang von der Architektur zur Musik nichts Neues. Früher hat er in einem Bundeswehrorchester Geige gespielt und mehrere Preise gewonnen. Mit seinen beiden Kollegen Lars Krückeberg und Wolfram Putz hat er im Chor der Technischen Universität Braunschweig gesungen, der Stadt, in der auch die ersten Kontakte zu Novoflot-Regisseur Sven Holm entstanden sind. Später war Willemeit als Mitarbeiter von Daniel Libeskind an einer Tristan-und-Isolde-Aufführung in Saarbrücken beteiligt. Das Büro Graft hätte sich, sagt er, schon immer für die szenische Qualität von Räumen im Scharounschen Sinne interessiert – Architektur nicht als autonome Kunst, sondern als eine Form, die benutzt wird. Ein Ansatz, der natürlich hilft, wenn es um das Gestalten theatraler Räume geht.

1998 gegründet, hat sich das Büro Graft mit Sitz in Los Angeles, Peking und in der Berliner Heidestraße einen guten Namen erarbeitet, auch Bezeichnungen wie „Die jungen Wilden in der Architektur“ sind keine Seltenheit. In Berlin hat das Büro Einfamilienhäuser, Villen und Hotels gebaut, die Temporäre Kunsthalle auf dem Schlossplatz entworfen. In Zusammenarbeit mit Brad Pitt hat es Häuser für den Wiederaufbau des Armenviertels „Lower Ninth Ward“ in New Orleans gebaut, die teilweise auch im Weihnachtsoratorium wiederkehren werden. Udo Badelt

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