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Leberstraße: Berliner Lebensadern (20): Die Murmeln von Marlene

Straßen erzählen Geschichten. Stadtgeschichten, Kiezgeschichten, Lebensgeschichten: Die Leberstraße auf der Roten Insel in Schöneberg gibt sich bis heute widerborstig.

Über der Leberstraße schwebt ein blauer Engel. Marlene Dietrich ist hoch oben auf eine Brandmauer gemalt, sie trägt einen breitkrempigen Hut, Augen und Lippen sind stark geschminkt. Wer zu ihr aufschaut, summt vielleicht eins ihrer Lieder, „Wo hast du nur die schönen blauen Augen her“ oder „Ich bin von Kopf bis Fuß auf Liebe eingestellt“.

Marlene, die Verführerin, ist 1901 in der Leberstraße geboren. Sie selbst hat sich nicht verführen lassen und widerstand in den dreißiger Jahren als Hollywoodstar den Angeboten der Nazis, die sie nach Deutschland zurückholen wollten. Widerstand ist das Schlüsselwort für den Zugang zur Geschichte dieser Straße, die ehedem Sedanstraße hieß. 1951 wurde sie in Leberstraße umbenannt, nach dem Widerstandskämpfer Julius Leber. Wer mit der S-Bahnlinie 1 zur Roten Insel kommt, sieht auf der Brücke die Gedenktafel. Es sind insgesamt vier Brücken, die seit dem frühen 20. Jahrhundert die Insel mit dem Rest der Stadt verbinden.

Auf dem Brückenkopf finden sich ein Bio-Supermarkt und ein Straßencafé, eines der drei sozialen Zentren im Kiez. Hier tauschen die Anwohner Neuigkeiten aus. Die Insellage gibt ihnen auch heute noch das Gefühl einer besonderen Verbundenheit – mit der sie zum Beispiel gegen die Bebauungspläne für das Grundstück des stillgelegten Gasometers vorgehen. Schönebergs East-End: Früher war die Insel ein traditioneller Arbeiterbezirk im Schatten des Gasometers.

Die Bevölkerungsstruktur hat sich erst in den letzten 20 Jahren verändert. Das vom Krieg kaum zerstörte Gründerzeitviertel, etwas abgeschieden und trotzdem mitten in der Stadt, zog die alternative Szene an, Schwule, Lesben, aber auch jüngere Manager und Bundesbehördenmitarbeiter. Im Straßencafé an der Brücke trinkt jeder mal einen Kaffee oder ein Bier. Auch die kiezbekannte Treberin kommt vorbei. „Na, Große, hasse ma 20 Cent oder so?“ Die Treberhilfe liegt gleich um die Ecke, ihr ehemaliger Geschäftsführer wurde im Gegensatz zu seinen Klienten nicht durch Charme, sondern durch Chuzpe bekannt. Auch wenn der schwarze Maserati hier noch nicht gesichtet wurde.

Exhibitionismus ist der Leberstraße fremd. Keine teuren Restaurants, keine schicken Galerien, dafür Zusammenleben quer durch alle Schichten. Gutverdiener haben die Dachstühle ausgebaut, mit freiem Blick über die Gleisanlagen, im Parterre erfüllen sich andere mit einem kleinen Lädchen ihren Lebenstraum, Trödler, ein China-Imbiss, eine Kampfkunstschule, eine Änderungsschneiderei, ein Secondhandladen für Kinderklamotten, eine Kohlenhandlung und Pittoreskes wie das „Mehlstübchen“. Kurz bevor sich die Straße zum Gustav-Müller-Platz hin öffnet, findet sich das zweite Zentrum des Kiezes. Der Kiosk von Botho und Roland ist Herz und Seele der Straße. Hier bekommt man Zeitung, Schrippen und Katzenstreu, gute Laune inklusive. Würde ein Nobelpreis für Kioskkultur vergeben, die beiden hätten ihn verdient.

Das Attribut „rot“ gehört seit 1987 zur Insel

Eine Anekdote erzählt, warum die Insel mit dem Attribut „rot“ belegt wurde. 1878, als die SPD noch qua Sozialistengesetz verboten war, kam Kaiser Wilhelm I. nach zwei Attentaten von einer Kur nach Berlin zurück. Die Stadt versank in einem schwarz-weiß-roten Fahnenmeer. Nur der Schöneberger Bierverleger Bäcker hängte in der Sedanstraße die rote Fahne aus dem Fenster – und wurde dafür des Landes verwiesen.

In den Jahren der Weimarer Republik wurde auf der Insel vor allem „rot“ gewählt. In den dreißiger Jahren wagte sich die SA nur schwer bewaffnet, überfallartig und in großen Trupps hierher. Auf Weisung der NSDAP wurde die Sedanstraße 1937 in Franz-Kopp-Straße umbenannt, nach einem SA-Mann, der hier erschossen worden war. Bis heute halten die Anwohner die Vergangenheit ihres Viertels lebendig. Die Geschichte birgt ein hohes Identifikationspotenzial. Als kürzlich Neonazis versuchten, sich in einem Hinterhaus einzunisten, wurden sie kurzerhand vertrieben. Vor Gericht mussten sie sich wegen ihrer lautstarken „Heil“-Rufe bei den Nachbarn entschuldigen, bald darauf verließen sie die Insel mit Sack und Pack.

Die Rotinsulaner sind meistens für friedliche Lösungen, auch wenn ein Blick in das „Inselnest“ einen daran zweifeln lassen könnte. An der Theke der Rund-um- die-Uhr-Kneipe scheinen manchmal 100 Jahre Knast versammelt zu sein. Aber in dem öffentlichen Wohnzimmer ist jeder gutwillige Gast willkommen, ob Transe oder Stino (vulgo: Stink-Normaler). Man stößt an mit Bier oder Baki, und schon gibt sich ein Thekennachbar mit Bart und Pferdeschwanz als Motorradfahrer, Billardcrack und Anlagentechniker zu erkennen, der als erster Mann in Berlin Erziehungsurlaub beantragt hat. Seine Frau Natascha hat morgen Geburtstag, er wird ihr eine Erstausgabe von Franz Kafkas „Prozess“ schenken. Kennengelernt haben sich die beiden in der Ukraine, wo der von seiner Zigarettenfabrik entsandte Berliner eine Dolmetscherin brauchte. Natascha, russische Germanistin, meinte kritisch: Einen Indianer kann ich nicht brauchen, ich hab hier andere Probleme. Kurze Zeit später hat sie den „Indianer“ geheiratet.

Das Gasometer versorgte die Straßen mit Licht, die Wohnungen mit Wärme - mögliche Spätenfolgen sind nicht bekannt

Wer morgens aus dem Inselnest fällt, trifft vielleicht die Kirchgänger auf dem Weg zum Gottesdienst in der Königin- Luise-Kirche am Gustav-Müller-Platz. In der schönen Saalkirche mit der markanten Kuppel trifft sich auch schon mal die Gasometer-Bürgerinitiative, die verhindern will, dass das Industriedenkmal zum „Schrotthaufen“ wird.

Der Gasometer: An der Ecke Leuthener Straße hat man die 1910 errichtete Stahlkonstruktion gut im Blick. Das hier gespeicherte Stadtgas wurde zur Beleuchtung von Straßen, Wohnungen sowie zum Heizen und Kochen genutzt. Entgegen vielen Befürchtungen gab es bis zur Stilllegung 1993 keine katastrophalen Explosionen, über die möglichen Spätfolgen der giftigen Abfallprodukte der Gasaufbereitung ist noch nichts bekannt. Ganz in der Nähe des Gasometers befand sich die Kohlenhandlung, in der der promovierte Nationalökonom Julius Leber unter einem Decknamen arbeitete, als er nach zweijähriger Haft 1937 aus dem KZ Sachsenhausen entlassen worden war. Als einer der führenden politischen Köpfe der Widerstandskämpfer des 20. Juli 1944 wurde er zwei Wochen vor dem Attentat auf Hitler verhaftet und am 5. Januar 1945 in Plötzensee hingerichtet.

Jenseits der Leuthener Straße wird die Leberstraße unbelebter, zum reinen Wohnviertel, etwas grau und trostlos. Ausgerechnet hier, in der nicht gerade repräsentativen Nummer 65 (früher Sedanstraße 53), wurde Marlene Dietrich geboren. Hier hat sie Murmeln gespielt, ist Rollschuh gefahren. Auf der Gedenktafel steht ein Satz von ihr, den auch der Titel ihrer Autobiografie zitiert: „Ich bin, Gott sei Dank, Berlinerin“. Heimatgefühl und Eigensinn: eine Haltung, die die Leberstraße mit ihrer berühmtesten Bewohnerin gemeinsam hat.

Christa Schmidt

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