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Mauerfall: Euphorisch in der Warteschlange

Am Tag nach dem Mauerfall begann der Sturm aufs Begrüßungsgeld – und traf die Banken unvorbereitet. Allein die Berliner Sparkasse zahlte es 1,2 Millionen Mal aus. Die DDR-Bürger standen stundenlang an.

Betrüger? „Die gab’s wahrscheinlich auch“, sagt Silvia Lüdemann. „Aber müssen Sie gleich mit den negativen Ausnahmen anfangen? Ich kriege heute noch Gänsehaut, wenn ich an diese verrückten Tage denke.“

Die begannen für Silvia Lüdemann und tausend Angestellte der Berliner Sparkasse, die damals noch Sparkasse der Stadt Berlin West hieß, schon in der Nacht des 9. November 1989. „Als die Mauer fiel, war uns klar, dass wir das mit dem Begrüßungsgeld irgendwie in den Griff bekommen mussten“, erinnert sich die damalige Sozialsenatorin Ingrid Stahmer (SPD). „Ich habe am Abend mit den Bankenchefs verhandelt, die erst keine Möglichkeit sahen – bis ich an ihr nationales Verantwortungsgefühl appellierte.“ Die Nachricht verkündete dann wenig später der damalige Regierende Bürgermeister Walter Momper (SPD): Ab Freitag, 10. November, zahlen Sparkassen und Banken Begrüßungsgeld in Höhe von 100 D-Mark an alle DDR-Bürger aus.

Nicht nur die damals 38-jährige Silvia Lüdemann, die in einer Sparkassenfiliale in der Obstallee in Staaken arbeitete, fiel am Freitagmorgen aus allen Wolken. Doch Zeit zum Nachdenken blieb keine. Staaken lag nun mal an der Stadtgrenze und draußen auf der Obstallee sammelten sich immer mehr Menschen.

Auch Jürgen Bruhn sah an diesem Morgen ungewöhnlich viele Menschen. „Die standen schon um sieben Uhr an unserer Filiale in der Berliner Straße“, erzählt er. „Ich hab’ mich zwar gewundert, aber nicht weiter drüber nachgedacht.“ Der heute 60-Jährige war 1989 stellvertretender Leiter der Abteilung Organisation der Sparkasse, hatte weder am Abend noch am Morgen den Fernseher oder das Radio eingeschaltet und erfuhr von Mauerfall und Begrüßungsgeld durch seinen Vorstand. Keine Ahnung wie er das bewerkstelligen sollte, befand Bruhn. Also rief er beim Senat an – morgens um acht. Um halb neun kam der Rückruf vom Senat: Das Begrüßungsgeld sei gegen Quittung an jeden DDR-Bürger auszuzahlen, der seinen Personalausweis vorlege. Das könne man dann aber mehrfach, gab Bruhn zu bedenken. „Dann machen Sie eben ein Kennzeichen in den Ausweis“, hieß es, „den Sparkassen-Stempel beispielsweise“. Über Telefon-Rundruf wurden nun die rund 90 Sparkassen-Filialen informiert, pünktlich um neun begann die Auszahlung.

Silvia Lüdemann und ihre Kolleginnen in der Obstallee arbeiteten ununterbrochen. Aber die Begegnungen entschädigten dafür. „Ein alter Herr nahm seinen Hundertmarkschein mit zitternden Händen entgegen. Weinend sagte er, dass er das noch erleben dürfe, sei das Schönste in seinem Leben.“ Junge Leute fragten, ob man für 100 D-Mark eine bestimmte Jeansmarke bekommt und wo es die gibt. Viele brachten Blumen für die Angestellten mit. „Nelken“, sagt Silvia Lüdemann. Ihre Filiale in der Staakener Obstallee gehörte zu den Anlaufstellen. Wo Grenzübergänge in der Nähe waren, rissen die Schlangen viele Tage nicht ab. „Am größten war der Ansturm am Kottbusser Tor, in der Sonnenallee und der Wollankstraße. Die Menschen waren nicht zu überzeugen, es doch bei einer anderen Filiale in der Nähe zu versuchen. Da haben wir dann unsere Schlangenbeschwörer hingeschickt“, sagt Silvia Lüdemann. So nannten sie Angestellte, die den letzten in einer Warteschlange überredeten, zu einer Filiale mitzukommen, wo er ohne Anstehen sein Geld bekam. Dafür musste er noch einmal zum Ende seiner ursprünglichen Schlange gehen und den Hundertmarkschein vorzeigen, um die anderen Wartenden zu überzeugen. So wechselten Tausende vom Kottbusser Tor zur Muskauer Straße. Die meisten Ostberliner und Menschen aus dem Umland holten sich ihr Begrüßungsgeld bei den Sparkassen in West-Berlin ab. „Das lag sicher auch daran, dass es in der DDR auch Sparkassen gab“, sagt Jürgen Bruhn. 1,2 Millionen Mal zahlten die Sparkassen-Mitarbeiter bis zum 29. Dezember 1989 Begrüßungsgeld aus. Sie arbeiteten auch am Wochenende, stellten Wasser für die Wartenden hin, beruhigten ihre Stammkunden aus dem Westen, die kaum noch dran kamen.

Wenn das Geld zur Neige ging, wurde Nachschub von der Bundesbank herangeschafft, notfalls mit Extratouren. „Es war ein Vorgang ohne vorher festgelegte Regeln“, sagt Bruhn. „So etwas nennt man eigentlich Chaos. Aber alles lief ohne Aggressionen und größere Probleme ab, getragen von einer Euphorie, die einmalig war.“

Jürgen Bruhn und Silvia Lüdemann sind sich einig: So etwas hat es nie wieder gegeben, weder bei der Währungsunion 1990, noch bei der Einführung des Euro. Kleine Pannen und menschlichen Unzulänglichkeiten gehörten dazu. So machten die Sparkassen-Stempel die DDR-Personalausweise eigentlich ungültig und wurden deshalb schnell durch Datumsstempel ersetzt. Und natürlich gab es auch Betrug. Da wurden Seiten aus den Ausweisen herausgerissen, „Wander-Kinder“ als die eigenen vorgezeigt oder doppelt für die Kinder, die bei Vater und Mutter im Ausweis standen, kassiert. „Manche haben ja vielleicht auch gedacht, dass die Mauer bald wieder zugeht“, sucht Silvia Lüdemann, die heute ein Privatkundencenter der Sparkasse am Kurfürstendamm leitet, eine Erklärung. „Denn als klar war, dass die Grenze geöffnet bleibt, sind nicht wenige gekommen und haben gesagt, sie hätten doppelt kassiert. Und dann haben sie das Geld tatsächlich wieder zurückgezahlt.“

 Sandra Dassler

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